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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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Nun mußte ich beweisen, daß uns Gott seinen
Willen über unser Thun und Lassen, oder über die Mo-
ralität der Handlungen, würklich offenbahrt habe. Auf
die Bibel durfte ich den Grafen nocht nicht verweisen,
denn da hätte ich erst den Beweis führen müssen, daß sie
Gottes Wort sey. Und dazu war er noch nicht vorbe-
reitet, auch lag dieser Beweis nicht in dem Zirkel der
Wahrheiten, über die wir bisher einig geworden waren.
Jch berief mich also auf das Gewissen, oder auf das
allen Menschen angebohrne moralische Gefühl.

Herr Graf, sagte ich, so wie alle Menschen dar-
in übereinstimmen, daß der Zucker einen andern Eindruck
auf die Zunge mache, als der Essig, daß ein durch die
Blattern zerrissenes Gesicht nicht schön, und eine feine
ebene Haut nicht häßlich in die Augen falle, so sind sie
auch alle darüber einig, daß Rauben und Morden nicht
moralisch gut, gerecht aber und menschenliebend seyn
nicht böse ist. So wenig alle, die von dem Eindruck
urtheilen, den Zucker oder Essig auf ihre Zunge, und
ein schönes oder heßliches Gesicht auf ihre Augen macht,
die physischen Regeln verstehen und überlegen, nach denen
dieser Eindruck erfolgt und erfolgen muß, eben so wenig
denkt der Mensch, wenn er gleich beym ersten Anblick
einer Handlung sein Urtheil über ihre Moralität fällt, an
die moralischen Regeln, durch die die Richtigkeit dessel-
ben erwiesen werden kann. Das Urtheil kommt der
Ueberlegung und Untersuchung zuvor. Es entspringt aus
einem innern Gefühl, welches man das moralische, oder
in einem gewissen Verstande, das Gewissen nennt. Alle
Menschen haben es, nur mit dem Unterschiede, daß es
bey dem einen feiner und empfindlicher ist, als bey dem
andern. Und Sie, Herr Graf, haben es auch. Um
ihm dieß fühlbar zu machen, laß ich ihm aus Gellerts
moralischen Vorlesungen die Charactere Damons und

Sem-
C 5


Nun mußte ich beweiſen, daß uns Gott ſeinen
Willen uͤber unſer Thun und Laſſen, oder uͤber die Mo-
ralitaͤt der Handlungen, wuͤrklich offenbahrt habe. Auf
die Bibel durfte ich den Grafen nocht nicht verweiſen,
denn da haͤtte ich erſt den Beweis fuͤhren muͤſſen, daß ſie
Gottes Wort ſey. Und dazu war er noch nicht vorbe-
reitet, auch lag dieſer Beweis nicht in dem Zirkel der
Wahrheiten, uͤber die wir bisher einig geworden waren.
Jch berief mich alſo auf das Gewiſſen, oder auf das
allen Menſchen angebohrne moraliſche Gefuͤhl.

Herr Graf, ſagte ich, ſo wie alle Menſchen dar-
in uͤbereinſtimmen, daß der Zucker einen andern Eindruck
auf die Zunge mache, als der Eſſig, daß ein durch die
Blattern zerriſſenes Geſicht nicht ſchoͤn, und eine feine
ebene Haut nicht haͤßlich in die Augen falle, ſo ſind ſie
auch alle daruͤber einig, daß Rauben und Morden nicht
moraliſch gut, gerecht aber und menſchenliebend ſeyn
nicht boͤſe iſt. So wenig alle, die von dem Eindruck
urtheilen, den Zucker oder Eſſig auf ihre Zunge, und
ein ſchoͤnes oder heßliches Geſicht auf ihre Augen macht,
die phyſiſchen Regeln verſtehen und uͤberlegen, nach denen
dieſer Eindruck erfolgt und erfolgen muß, eben ſo wenig
denkt der Menſch, wenn er gleich beym erſten Anblick
einer Handlung ſein Urtheil uͤber ihre Moralitaͤt faͤllt, an
die moraliſchen Regeln, durch die die Richtigkeit deſſel-
ben erwieſen werden kann. Das Urtheil kommt der
Ueberlegung und Unterſuchung zuvor. Es entſpringt aus
einem innern Gefuͤhl, welches man das moraliſche, oder
in einem gewiſſen Verſtande, das Gewiſſen nennt. Alle
Menſchen haben es, nur mit dem Unterſchiede, daß es
bey dem einen feiner und empfindlicher iſt, als bey dem
andern. Und Sie, Herr Graf, haben es auch. Um
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moraliſchen Vorleſungen die Charactere Damons und

Sem-
C 5
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[41/0053] Nun mußte ich beweiſen, daß uns Gott ſeinen Willen uͤber unſer Thun und Laſſen, oder uͤber die Mo- ralitaͤt der Handlungen, wuͤrklich offenbahrt habe. Auf die Bibel durfte ich den Grafen nocht nicht verweiſen, denn da haͤtte ich erſt den Beweis fuͤhren muͤſſen, daß ſie Gottes Wort ſey. Und dazu war er noch nicht vorbe- reitet, auch lag dieſer Beweis nicht in dem Zirkel der Wahrheiten, uͤber die wir bisher einig geworden waren. Jch berief mich alſo auf das Gewiſſen, oder auf das allen Menſchen angebohrne moraliſche Gefuͤhl. Herr Graf, ſagte ich, ſo wie alle Menſchen dar- in uͤbereinſtimmen, daß der Zucker einen andern Eindruck auf die Zunge mache, als der Eſſig, daß ein durch die Blattern zerriſſenes Geſicht nicht ſchoͤn, und eine feine ebene Haut nicht haͤßlich in die Augen falle, ſo ſind ſie auch alle daruͤber einig, daß Rauben und Morden nicht moraliſch gut, gerecht aber und menſchenliebend ſeyn nicht boͤſe iſt. So wenig alle, die von dem Eindruck urtheilen, den Zucker oder Eſſig auf ihre Zunge, und ein ſchoͤnes oder heßliches Geſicht auf ihre Augen macht, die phyſiſchen Regeln verſtehen und uͤberlegen, nach denen dieſer Eindruck erfolgt und erfolgen muß, eben ſo wenig denkt der Menſch, wenn er gleich beym erſten Anblick einer Handlung ſein Urtheil uͤber ihre Moralitaͤt faͤllt, an die moraliſchen Regeln, durch die die Richtigkeit deſſel- ben erwieſen werden kann. Das Urtheil kommt der Ueberlegung und Unterſuchung zuvor. Es entſpringt aus einem innern Gefuͤhl, welches man das moraliſche, oder in einem gewiſſen Verſtande, das Gewiſſen nennt. Alle Menſchen haben es, nur mit dem Unterſchiede, daß es bey dem einen feiner und empfindlicher iſt, als bey dem andern. Und Sie, Herr Graf, haben es auch. Um ihm dieß fuͤhlbar zu machen, laß ich ihm aus Gellerts moraliſchen Vorleſungen die Charactere Damons und Sem- C 5

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/53>, abgerufen am 22.11.2024.