Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite




nie geläugnet. Wenn ich gleich kein Verbrechen, so
man vor der Welt, die so denkt, wie ich gedacht habe,
zu gestehen sich scheuen muß, zu beweinen hätte: so
fühle ich um so viel lebhafter diejenigen, deren ich mir
vor Gott bewußt bin. Das Gefühl der Freundschaft und
der Menschenliebe erinnert mich ohne Unterlaß an das
Beyspiel, den Leichtsinn, die Verführung, wodurch ich
andre verleitet, die sinnlichen Vergnügen als den Haupt-
zweck ihrer Bestimmung anzusehen. Außer dieser und
ähnlichen Betrachtungen rührt mich nichts, was eine
Beziehung auf meinen itzigen Zustand hat. Schrecken
und die Vernunft betäubende Furcht habe ich vorhin
wenig gekannt. Der Tod rührte mich wenig, da ich ihn
als die Folge natürlicher Ursachen und eines unvermeid-
lichen Schicksals ansah. Jtzt ist er mir nichts schreckli-
ches, da ich weiß, daß ich von Gott abhange, da ich
von der Wahrheit der geoffenbarten Religion überzeugt
bin, und eine glückliche Ewigkeit erwarte.

Jch danke Gott unendlich zu dieser Ueberzeugung
gelangt zu seyn, und erkenne es mit der lebhaftesten
Dankbarkeit, mein wehrtester Freund, daß Sie mich
dahin geführt haben. Sie haben die einzige Art gewählt,
so meine Gemühtsverfassung zuließ. Bilder und Decla-
mationes würden wenig auf mich gewürkt haben. Hätten
Sie meine Einbildungskraft und Leidenschaften in Be-
wegung setzen können, so würden meine Grundsätze sie
bald wieder beruhigt haben. Die Wahrheiten der Re-
ligion waren in meinem Gedächtnisse. Jn meinem ersten
Alter hatte ich häufig die Bibel gelesen, aber mit ganz
andern Vorstellungen als ich sie itzt lese. Jhre Aus-
drücke waren mir bekannt, und ich hatte nachher eine
Fertigkeit erlangt, alle die Zweifel und Begriffe, so
meiner Meynung gemäß waren, damit zu verbinden.
Ehe der Verstand mir die Falschheit der letztern erwie-
sen, konnten Sie keine aufrichtige Annehmung der

Offen-
U 3




nie gelaͤugnet. Wenn ich gleich kein Verbrechen, ſo
man vor der Welt, die ſo denkt, wie ich gedacht habe,
zu geſtehen ſich ſcheuen muß, zu beweinen haͤtte: ſo
fuͤhle ich um ſo viel lebhafter diejenigen, deren ich mir
vor Gott bewußt bin. Das Gefuͤhl der Freundſchaft und
der Menſchenliebe erinnert mich ohne Unterlaß an das
Beyſpiel, den Leichtſinn, die Verfuͤhrung, wodurch ich
andre verleitet, die ſinnlichen Vergnuͤgen als den Haupt-
zweck ihrer Beſtimmung anzuſehen. Außer dieſer und
aͤhnlichen Betrachtungen ruͤhrt mich nichts, was eine
Beziehung auf meinen itzigen Zuſtand hat. Schrecken
und die Vernunft betaͤubende Furcht habe ich vorhin
wenig gekannt. Der Tod ruͤhrte mich wenig, da ich ihn
als die Folge natuͤrlicher Urſachen und eines unvermeid-
lichen Schickſals anſah. Jtzt iſt er mir nichts ſchreckli-
ches, da ich weiß, daß ich von Gott abhange, da ich
von der Wahrheit der geoffenbarten Religion uͤberzeugt
bin, und eine gluͤckliche Ewigkeit erwarte.

Jch danke Gott unendlich zu dieſer Ueberzeugung
gelangt zu ſeyn, und erkenne es mit der lebhafteſten
Dankbarkeit, mein wehrteſter Freund, daß Sie mich
dahin gefuͤhrt haben. Sie haben die einzige Art gewaͤhlt,
ſo meine Gemuͤhtsverfaſſung zuließ. Bilder und Decla-
mationes wuͤrden wenig auf mich gewuͤrkt haben. Haͤtten
Sie meine Einbildungskraft und Leidenſchaften in Be-
wegung ſetzen koͤnnen, ſo wuͤrden meine Grundſaͤtze ſie
bald wieder beruhigt haben. Die Wahrheiten der Re-
ligion waren in meinem Gedaͤchtniſſe. Jn meinem erſten
Alter hatte ich haͤufig die Bibel geleſen, aber mit ganz
andern Vorſtellungen als ich ſie itzt leſe. Jhre Aus-
druͤcke waren mir bekannt, und ich hatte nachher eine
Fertigkeit erlangt, alle die Zweifel und Begriffe, ſo
meiner Meynung gemaͤß waren, damit zu verbinden.
Ehe der Verſtand mir die Falſchheit der letztern erwie-
ſen, konnten Sie keine aufrichtige Annehmung der

Offen-
U 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0321" n="309"/><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
nie gela&#x0364;ugnet. Wenn ich gleich kein Verbrechen, &#x017F;o<lb/>
man vor der Welt, die &#x017F;o denkt, wie ich gedacht habe,<lb/>
zu ge&#x017F;tehen &#x017F;ich &#x017F;cheuen muß, zu beweinen ha&#x0364;tte: &#x017F;o<lb/>
fu&#x0364;hle ich um &#x017F;o viel lebhafter diejenigen, deren ich mir<lb/>
vor Gott bewußt bin. Das Gefu&#x0364;hl der Freund&#x017F;chaft und<lb/>
der Men&#x017F;chenliebe erinnert mich ohne Unterlaß an das<lb/>
Bey&#x017F;piel, den Leicht&#x017F;inn, die Verfu&#x0364;hrung, wodurch ich<lb/>
andre verleitet, die &#x017F;innlichen Vergnu&#x0364;gen als den Haupt-<lb/>
zweck ihrer Be&#x017F;timmung anzu&#x017F;ehen. Außer die&#x017F;er und<lb/>
a&#x0364;hnlichen Betrachtungen ru&#x0364;hrt mich nichts, was eine<lb/>
Beziehung auf meinen itzigen Zu&#x017F;tand hat. Schrecken<lb/>
und die Vernunft beta&#x0364;ubende Furcht habe ich vorhin<lb/>
wenig gekannt. Der Tod ru&#x0364;hrte mich wenig, da ich ihn<lb/>
als die Folge natu&#x0364;rlicher Ur&#x017F;achen und eines unvermeid-<lb/>
lichen Schick&#x017F;als an&#x017F;ah. Jtzt i&#x017F;t er mir nichts &#x017F;chreckli-<lb/>
ches, da ich weiß, daß ich von Gott abhange, da ich<lb/>
von der Wahrheit der geoffenbarten Religion u&#x0364;berzeugt<lb/>
bin, und eine glu&#x0364;ckliche Ewigkeit erwarte.</p><lb/>
          <p>Jch danke Gott unendlich zu die&#x017F;er Ueberzeugung<lb/>
gelangt zu &#x017F;eyn, und erkenne es mit der lebhafte&#x017F;ten<lb/>
Dankbarkeit, mein wehrte&#x017F;ter Freund, daß Sie mich<lb/>
dahin gefu&#x0364;hrt haben. Sie haben die einzige Art gewa&#x0364;hlt,<lb/>
&#x017F;o meine Gemu&#x0364;htsverfa&#x017F;&#x017F;ung zuließ. Bilder und Decla-<lb/>
mationes wu&#x0364;rden wenig auf mich gewu&#x0364;rkt haben. Ha&#x0364;tten<lb/>
Sie meine Einbildungskraft und Leiden&#x017F;chaften in Be-<lb/>
wegung &#x017F;etzen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wu&#x0364;rden meine Grund&#x017F;a&#x0364;tze &#x017F;ie<lb/>
bald wieder beruhigt haben. Die Wahrheiten der Re-<lb/>
ligion waren in meinem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e. Jn meinem er&#x017F;ten<lb/>
Alter hatte ich ha&#x0364;ufig die Bibel gele&#x017F;en, aber mit ganz<lb/>
andern Vor&#x017F;tellungen als ich &#x017F;ie itzt le&#x017F;e. Jhre Aus-<lb/>
dru&#x0364;cke waren mir bekannt, und ich hatte nachher eine<lb/>
Fertigkeit erlangt, alle die Zweifel und Begriffe, &#x017F;o<lb/>
meiner Meynung gema&#x0364;ß waren, damit zu verbinden.<lb/>
Ehe der Ver&#x017F;tand mir die Fal&#x017F;chheit der letztern erwie-<lb/>
&#x017F;en, konnten Sie keine aufrichtige Annehmung der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Offen-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[309/0321] nie gelaͤugnet. Wenn ich gleich kein Verbrechen, ſo man vor der Welt, die ſo denkt, wie ich gedacht habe, zu geſtehen ſich ſcheuen muß, zu beweinen haͤtte: ſo fuͤhle ich um ſo viel lebhafter diejenigen, deren ich mir vor Gott bewußt bin. Das Gefuͤhl der Freundſchaft und der Menſchenliebe erinnert mich ohne Unterlaß an das Beyſpiel, den Leichtſinn, die Verfuͤhrung, wodurch ich andre verleitet, die ſinnlichen Vergnuͤgen als den Haupt- zweck ihrer Beſtimmung anzuſehen. Außer dieſer und aͤhnlichen Betrachtungen ruͤhrt mich nichts, was eine Beziehung auf meinen itzigen Zuſtand hat. Schrecken und die Vernunft betaͤubende Furcht habe ich vorhin wenig gekannt. Der Tod ruͤhrte mich wenig, da ich ihn als die Folge natuͤrlicher Urſachen und eines unvermeid- lichen Schickſals anſah. Jtzt iſt er mir nichts ſchreckli- ches, da ich weiß, daß ich von Gott abhange, da ich von der Wahrheit der geoffenbarten Religion uͤberzeugt bin, und eine gluͤckliche Ewigkeit erwarte. Jch danke Gott unendlich zu dieſer Ueberzeugung gelangt zu ſeyn, und erkenne es mit der lebhafteſten Dankbarkeit, mein wehrteſter Freund, daß Sie mich dahin gefuͤhrt haben. Sie haben die einzige Art gewaͤhlt, ſo meine Gemuͤhtsverfaſſung zuließ. Bilder und Decla- mationes wuͤrden wenig auf mich gewuͤrkt haben. Haͤtten Sie meine Einbildungskraft und Leidenſchaften in Be- wegung ſetzen koͤnnen, ſo wuͤrden meine Grundſaͤtze ſie bald wieder beruhigt haben. Die Wahrheiten der Re- ligion waren in meinem Gedaͤchtniſſe. Jn meinem erſten Alter hatte ich haͤufig die Bibel geleſen, aber mit ganz andern Vorſtellungen als ich ſie itzt leſe. Jhre Aus- druͤcke waren mir bekannt, und ich hatte nachher eine Fertigkeit erlangt, alle die Zweifel und Begriffe, ſo meiner Meynung gemaͤß waren, damit zu verbinden. Ehe der Verſtand mir die Falſchheit der letztern erwie- ſen, konnten Sie keine aufrichtige Annehmung der Offen- U 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/321
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/321>, abgerufen am 30.04.2024.