Wie viel Misvergnügen über mich selbst erregten mir nicht diese Betrachtungen? Es war genug, daß ich über- führt ward, wie weit ich mich von meinem Entzweck entfernt, wie wenig ich meiner Bestimmung gemäß gehandelt, und wie viele Vorwürfe ich verdiente. Empfindlich demüthi- gend fühlte ich, falschen Grundsätzen und eingeschränkten Vorurtheilen gefolgt zu seyn. Sie wissen, wie heftig ich besonders das Unglück derjenigen Personen empfand, mit denen ich in Verbindung gestanden: und nun blieb mir nichts übrig meinen Schmerz zu lindern, da ich mich allein die Ursache desselben zu seyn fand. Er ward um so viel leb- hafter, wenn ich ihn von der Seite ansah, die jetzt den mei- sten Eindruck auf mich machte. Die vielen Folgen, so meine moralischen Vergehungen nach sich ziehen, und der Gedan- ke, Gott beleidigt zu haben, würkten auf mich am heftigsten.
Meine mir zur Gewohnheit gewordenen Vorstellun- gen erregten mir jedoch öfters das Mistrauen, ob nicht meine itzige Gemüthsverfassung mehr als die Ueberzeugung des Verstandes diese Gesinnungen verursache. Die Ungewiß- heit über die Natur der Seele, und ihrer Fortdauer nach diesem Leben, hielt mich vornemlich zurück mich Jhnen völlig zu überlassen. Bonnet ließ mir keinen Zweifel deswe- gen übrig, in so fern die Vernunft darin zur Gewißheit kom- men kann. Jch konnte nicht läugnen, daß meine jetzige Gemühtsverfassung, verglichen mit der vorigen, weit fä- higer sey, die Wahrheit zu untersuchen und zu finden. Die- se übersah flüchtig, was meinen Neigungen misfiel, und fand wahr, was sie wünschten. Jene war weit vorsichtiger, voller Mistrauen, und es kostet viel zu gestehen, daß man sich geirrt habe. Jemehr ich meinen übrigen Zweifeln nach- dachte, desto weniger Ursache fand ich solche gegründet zu halten. Jch gieng alles einzeln durch, was ich mir zur Be- stätigung meiner Meynungen so oft wiederhohlt hatte: aber endlich mußte ich mit Gellert gestehen, wenn das was wir von Gott, von der Seele, und von unsrer moralischen
Glück-
T 3
Wie viel Misvergnuͤgen uͤber mich ſelbſt erregten mir nicht dieſe Betrachtungen? Es war genug, daß ich uͤber- fuͤhrt ward, wie weit ich mich von meinem Entzweck entfernt, wie wenig ich meiner Beſtimmung gemaͤß gehandelt, und wie viele Vorwuͤrfe ich verdiente. Empfindlich demuͤthi- gend fuͤhlte ich, falſchen Grundſaͤtzen und eingeſchraͤnkten Vorurtheilen gefolgt zu ſeyn. Sie wiſſen, wie heftig ich beſonders das Ungluͤck derjenigen Perſonen empfand, mit denen ich in Verbindung geſtanden: und nun blieb mir nichts uͤbrig meinen Schmerz zu lindern, da ich mich allein die Urſache deſſelben zu ſeyn fand. Er ward um ſo viel leb- hafter, wenn ich ihn von der Seite anſah, die jetzt den mei- ſten Eindruck auf mich machte. Die vielen Folgen, ſo meine moraliſchen Vergehungen nach ſich ziehen, und der Gedan- ke, Gott beleidigt zu haben, wuͤrkten auf mich am heftigſten.
Meine mir zur Gewohnheit gewordenen Vorſtellun- gen erregten mir jedoch oͤfters das Mistrauen, ob nicht meine itzige Gemuͤthsverfaſſung mehr als die Ueberzeugung des Verſtandes dieſe Geſinnungen verurſache. Die Ungewiß- heit uͤber die Natur der Seele, und ihrer Fortdauer nach dieſem Leben, hielt mich vornemlich zuruͤck mich Jhnen voͤllig zu uͤberlaſſen. Bonnet ließ mir keinen Zweifel deswe- gen uͤbrig, in ſo fern die Vernunft darin zur Gewißheit kom- men kann. Jch konnte nicht laͤugnen, daß meine jetzige Gemuͤhtsverfaſſung, verglichen mit der vorigen, weit faͤ- higer ſey, die Wahrheit zu unterſuchen und zu finden. Die- ſe uͤberſah fluͤchtig, was meinen Neigungen misfiel, und fand wahr, was ſie wuͤnſchten. Jene war weit vorſichtiger, voller Mistrauen, und es koſtet viel zu geſtehen, daß man ſich geirrt habe. Jemehr ich meinen uͤbrigen Zweifeln nach- dachte, deſto weniger Urſache fand ich ſolche gegruͤndet zu halten. Jch gieng alles einzeln durch, was ich mir zur Be- ſtaͤtigung meiner Meynungen ſo oft wiederhohlt hatte: aber endlich mußte ich mit Gellert geſtehen, wenn das was wir von Gott, von der Seele, und von unſrer moraliſchen
Gluͤck-
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Wie viel Misvergnuͤgen uͤber mich ſelbſt erregten mir
nicht dieſe Betrachtungen? Es war genug, daß ich uͤber-
fuͤhrt ward, wie weit ich mich von meinem Entzweck entfernt,
wie wenig ich meiner Beſtimmung gemaͤß gehandelt, und
wie viele Vorwuͤrfe ich verdiente. Empfindlich demuͤthi-
gend fuͤhlte ich, falſchen Grundſaͤtzen und eingeſchraͤnkten
Vorurtheilen gefolgt zu ſeyn. Sie wiſſen, wie heftig ich
beſonders das Ungluͤck derjenigen Perſonen empfand, mit
denen ich in Verbindung geſtanden: und nun blieb mir
nichts uͤbrig meinen Schmerz zu lindern, da ich mich allein
die Urſache deſſelben zu ſeyn fand. Er ward um ſo viel leb-
hafter, wenn ich ihn von der Seite anſah, die jetzt den mei-
ſten Eindruck auf mich machte. Die vielen Folgen, ſo meine
moraliſchen Vergehungen nach ſich ziehen, und der Gedan-
ke, Gott beleidigt zu haben, wuͤrkten auf mich am heftigſten.
Meine mir zur Gewohnheit gewordenen Vorſtellun-
gen erregten mir jedoch oͤfters das Mistrauen, ob nicht meine
itzige Gemuͤthsverfaſſung mehr als die Ueberzeugung des
Verſtandes dieſe Geſinnungen verurſache. Die Ungewiß-
heit uͤber die Natur der Seele, und ihrer Fortdauer nach
dieſem Leben, hielt mich vornemlich zuruͤck mich Jhnen
voͤllig zu uͤberlaſſen. Bonnet ließ mir keinen Zweifel deswe-
gen uͤbrig, in ſo fern die Vernunft darin zur Gewißheit kom-
men kann. Jch konnte nicht laͤugnen, daß meine jetzige
Gemuͤhtsverfaſſung, verglichen mit der vorigen, weit faͤ-
higer ſey, die Wahrheit zu unterſuchen und zu finden. Die-
ſe uͤberſah fluͤchtig, was meinen Neigungen misfiel, und
fand wahr, was ſie wuͤnſchten. Jene war weit vorſichtiger,
voller Mistrauen, und es koſtet viel zu geſtehen, daß man
ſich geirrt habe. Jemehr ich meinen uͤbrigen Zweifeln nach-
dachte, deſto weniger Urſache fand ich ſolche gegruͤndet zu
halten. Jch gieng alles einzeln durch, was ich mir zur Be-
ſtaͤtigung meiner Meynungen ſo oft wiederhohlt hatte: aber
endlich mußte ich mit Gellert geſtehen, wenn das was wir
von Gott, von der Seele, und von unſrer moraliſchen
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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/305>, abgerufen am 28.07.2024.
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