Müllner, Adolph: Der Kaliber. Leipzig, 1829.zu ihr. Sie hatte, als ich die Thür öffnete, schon das Sopha verlassen, auf welchem der Myrthenkranz lag, der heute ihr schönes Haar hatte schmücken sollen; und stand mitten im Zimmer. "Willkommen, Hochzeitsgast!" sagte sie mit einem Tone, der mir durch alle Nerven drang. Ich konnte nicht sprechen, sie las meine Empfindung in meinen Augen, schien mir in den ihrigen Fassung zeigen zu wollen, stürzte aber, überwältiget von ihrem Leid, dessen Gefühl der Anblick meines Mitleids aufgeregt hatte, im nächsten Augenblicke laut schluchzend an meinen Hals. Ich erfuhr zum ersten Male das wunderbare, gemütherhebende Uebergewicht der sittlichen Natur über die sinnliche. Das reizendste Weib, das ich je gesehen, lag in meinen Armen, und ich fühlte nichts, durchaus nichts, als ihren Schmerz. zu ihr. Sie hatte, als ich die Thür öffnete, schon das Sopha verlassen, auf welchem der Myrthenkranz lag, der heute ihr schönes Haar hatte schmücken sollen; und stand mitten im Zimmer. „Willkommen, Hochzeitsgast!“ sagte sie mit einem Tone, der mir durch alle Nerven drang. Ich konnte nicht sprechen, sie las meine Empfindung in meinen Augen, schien mir in den ihrigen Fassung zeigen zu wollen, stürzte aber, überwältiget von ihrem Leid, dessen Gefühl der Anblick meines Mitleids aufgeregt hatte, im nächsten Augenblicke laut schluchzend an meinen Hals. Ich erfuhr zum ersten Male das wunderbare, gemütherhebende Uebergewicht der sittlichen Natur über die sinnliche. Das reizendste Weib, das ich je gesehen, lag in meinen Armen, und ich fühlte nichts, durchaus nichts, als ihren Schmerz. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0150" n="130"/> zu <hi rendition="#g">ihr</hi>. Sie hatte, als ich die Thür öffnete, schon das Sopha verlassen, auf welchem der <hi rendition="#g">Myrthenkranz</hi> lag, der heute ihr schönes Haar hatte schmücken sollen; und stand mitten im Zimmer.</p> <p>„Willkommen, Hochzeitsgast!“ sagte sie mit einem Tone, der mir durch alle Nerven drang.</p> <p>Ich konnte nicht sprechen, sie las meine Empfindung in meinen Augen, schien mir in den ihrigen Fassung zeigen zu wollen, stürzte aber, überwältiget von ihrem Leid, dessen Gefühl der Anblick meines Mitleids aufgeregt hatte, im nächsten Augenblicke laut schluchzend an meinen Hals. Ich erfuhr zum ersten Male das wunderbare, gemütherhebende Uebergewicht der sittlichen Natur über die sinnliche.</p> <p>Das reizendste Weib, das ich je gesehen, lag in meinen Armen, und ich fühlte nichts, durchaus nichts, als ihren Schmerz.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [130/0150]
zu ihr. Sie hatte, als ich die Thür öffnete, schon das Sopha verlassen, auf welchem der Myrthenkranz lag, der heute ihr schönes Haar hatte schmücken sollen; und stand mitten im Zimmer.
„Willkommen, Hochzeitsgast!“ sagte sie mit einem Tone, der mir durch alle Nerven drang.
Ich konnte nicht sprechen, sie las meine Empfindung in meinen Augen, schien mir in den ihrigen Fassung zeigen zu wollen, stürzte aber, überwältiget von ihrem Leid, dessen Gefühl der Anblick meines Mitleids aufgeregt hatte, im nächsten Augenblicke laut schluchzend an meinen Hals. Ich erfuhr zum ersten Male das wunderbare, gemütherhebende Uebergewicht der sittlichen Natur über die sinnliche.
Das reizendste Weib, das ich je gesehen, lag in meinen Armen, und ich fühlte nichts, durchaus nichts, als ihren Schmerz.
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Zitationshilfe: | Müllner, Adolph: Der Kaliber. Leipzig, 1829, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muellner_kaliber_1829/150>, abgerufen am 08.07.2024. |