Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber auch von den würdigsten Charakteren verherr- lichte, Geistlichkeit war das unentbehrlichste Bin- dungsmittel für die einzelnen Generationen des Mittelalters, eben so für einzelne neben einan- der wohnende Europäische Völkerschaften. In dieser erhabenen Eigenschaft, die ich insbeson- dre ihre staatsrechtliche und völkerrechtliche nann- te, wurde sie von den Reformatoren vorzüglich verdammt; und diese Ansicht war es, welche der Reformation unzählige Freunde unter den Re- gierenden und in den Handelsstädten verschaffte.
Wenn wir nehmlich den politischen Zustand von Europa im vierzehnten und funfzehnten Jahrhundert betrachten, so scheint es, als haben sich die drei großen Elemente des modernen Rech- tes, das geistliche Recht, welches auf dem cor- porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches auf dem Familieneigenthum, und das bürgerli- che, städtische Recht, welches auf dem Europäi- schen Privateigenthum beruhete, jedes abgeson- dert auf einem eigenthümlichen Boden entwickelt: wir finden besonders in Deutschland und Ita- lien geistliche, adelige und bürgerliche Staaten in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank- reich, und besonders in England, treten diese drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-
Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr- lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin- dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan- der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon- dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann- te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re- gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte.
Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand von Europa im vierzehnten und funfzehnten Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben ſich die drei großen Elemente des modernen Rech- tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor- porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli- che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi- ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon- dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt: wir finden beſonders in Deutſchland und Ita- lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank- reich, und beſonders in England, treten dieſe drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0124"n="116"/>
Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber<lb/>
auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr-<lb/>
lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin-<lb/>
dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des<lb/>
Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan-<lb/>
der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In<lb/>
dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon-<lb/>
dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann-<lb/>
te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich<lb/>
verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der<lb/>
Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re-<lb/>
gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte.</p><lb/><p>Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand<lb/>
von Europa im vierzehnten und funfzehnten<lb/>
Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben<lb/>ſich die drei großen Elemente des modernen Rech-<lb/>
tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor-<lb/>
porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches<lb/>
auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli-<lb/>
che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi-<lb/>ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon-<lb/>
dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt:<lb/>
wir finden beſonders in Deutſchland und Ita-<lb/>
lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten<lb/>
in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank-<lb/>
reich, und beſonders in England, treten dieſe<lb/>
drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[116/0124]
Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber
auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr-
lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin-
dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des
Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan-
der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In
dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon-
dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann-
te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich
verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der
Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re-
gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte.
Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand
von Europa im vierzehnten und funfzehnten
Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben
ſich die drei großen Elemente des modernen Rech-
tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor-
porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches
auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli-
che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi-
ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon-
dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt:
wir finden beſonders in Deutſchland und Ita-
lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten
in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank-
reich, und beſonders in England, treten dieſe
drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/124>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.