Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809.

Bild:

<< vorherige Seite

nächste Seite >>

Wer durch Studium und natürliche Anlage
den wahren historischen Blick für solche Unter-
suchungen erlangt hat, wird diese Ansicht von
der wahren Natur christlicher Geistlichkeit gerecht-
fertigt finden. Diesen Charakter der Vermitte-
lung zwischen den nationalen und allgemeinen,
zwischen den vergänglichen politischen und den
ewigen religiösen Formen des bürgerlichen Le-
bens hat die Geistlichkeit, unter allen Mißbräu-
chen, bis in das funfzehnte Jahrhundert behaup-
ret; darum war die oberste weltliche Autorität,
nach den Ansichten aller Zeiten, das Concilium,
eine aus den Geistlichen aller Nationen zusam-
mengesetzte oder doch von ihnen bevollmächtigte
Versammlung. --

So nun steht die Geistlichkeit als erster Stand
über den beiden andern Ständen, oder sie ist
das vermittelnde Glied zwischen ihnen beiden.
Ich habe neulich gezeigt, daß aus einer bestän-
digen Wechselwirkung zwischen dem Adel und der
Bürgerschaft, oder zwischen dem Lehnsrecht und
dem (nicht Römischen, sondern Europäischen)
strengeren Eigenthumsrecht eine wahre lebendige
und nationale Gesetzgebung, wie die Brittische,
hervorgeht. Die Geistlichkeit, welche das christ-
liche oder allgemeine menschliche Element aller
Verfassungen repräsentiren sollte, würde nun in

Wer durch Studium und natuͤrliche Anlage
den wahren hiſtoriſchen Blick fuͤr ſolche Unter-
ſuchungen erlangt hat, wird dieſe Anſicht von
der wahren Natur chriſtlicher Geiſtlichkeit gerecht-
fertigt finden. Dieſen Charakter der Vermitte-
lung zwiſchen den nationalen und allgemeinen,
zwiſchen den vergaͤnglichen politiſchen und den
ewigen religioͤſen Formen des buͤrgerlichen Le-
bens hat die Geiſtlichkeit, unter allen Mißbraͤu-
chen, bis in das funfzehnte Jahrhundert behaup-
ret; darum war die oberſte weltliche Autoritaͤt,
nach den Anſichten aller Zeiten, das Concilium,
eine aus den Geiſtlichen aller Nationen zuſam-
mengeſetzte oder doch von ihnen bevollmaͤchtigte
Verſammlung. —

So nun ſteht die Geiſtlichkeit als erſter Stand
uͤber den beiden andern Staͤnden, oder ſie iſt
das vermittelnde Glied zwiſchen ihnen beiden.
Ich habe neulich gezeigt, daß aus einer beſtaͤn-
digen Wechſelwirkung zwiſchen dem Adel und der
Buͤrgerſchaft, oder zwiſchen dem Lehnsrecht und
dem (nicht Roͤmiſchen, ſondern Europaͤiſchen)
ſtrengeren Eigenthumsrecht eine wahre lebendige
und nationale Geſetzgebung, wie die Brittiſche,
hervorgeht. Die Geiſtlichkeit, welche das chriſt-
liche oder allgemeine menſchliche Element aller
Verfaſſungen repraͤſentiren ſollte, wuͤrde nun in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0112" n="104"/>
            <p>Wer durch Studium und natu&#x0364;rliche Anlage<lb/>
den wahren hi&#x017F;tori&#x017F;chen Blick fu&#x0364;r &#x017F;olche Unter-<lb/>
&#x017F;uchungen erlangt hat, wird die&#x017F;e An&#x017F;icht von<lb/>
der wahren Natur chri&#x017F;tlicher Gei&#x017F;tlichkeit gerecht-<lb/>
fertigt finden. Die&#x017F;en Charakter der Vermitte-<lb/>
lung zwi&#x017F;chen den nationalen und allgemeinen,<lb/>
zwi&#x017F;chen den verga&#x0364;nglichen politi&#x017F;chen und den<lb/>
ewigen religio&#x0364;&#x017F;en Formen des bu&#x0364;rgerlichen Le-<lb/>
bens hat die Gei&#x017F;tlichkeit, unter allen Mißbra&#x0364;u-<lb/>
chen, bis in das funfzehnte Jahrhundert behaup-<lb/>
ret; darum war die ober&#x017F;te weltliche Autorita&#x0364;t,<lb/>
nach den An&#x017F;ichten aller Zeiten, das Concilium,<lb/>
eine aus den Gei&#x017F;tlichen aller Nationen zu&#x017F;am-<lb/>
menge&#x017F;etzte oder doch von ihnen bevollma&#x0364;chtigte<lb/>
Ver&#x017F;ammlung. &#x2014;</p><lb/>
            <p>So nun &#x017F;teht die Gei&#x017F;tlichkeit als er&#x017F;ter Stand<lb/>
u&#x0364;ber den beiden andern Sta&#x0364;nden, oder &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
das vermittelnde Glied zwi&#x017F;chen ihnen beiden.<lb/>
Ich habe neulich gezeigt, daß aus einer be&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
digen Wech&#x017F;elwirkung zwi&#x017F;chen dem Adel und der<lb/>
Bu&#x0364;rger&#x017F;chaft, oder zwi&#x017F;chen dem Lehnsrecht und<lb/>
dem (nicht Ro&#x0364;mi&#x017F;chen, &#x017F;ondern Europa&#x0364;i&#x017F;chen)<lb/>
&#x017F;trengeren Eigenthumsrecht eine wahre lebendige<lb/>
und nationale Ge&#x017F;etzgebung, wie die Britti&#x017F;che,<lb/>
hervorgeht. Die Gei&#x017F;tlichkeit, welche das chri&#x017F;t-<lb/>
liche oder allgemeine men&#x017F;chliche Element aller<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungen repra&#x0364;&#x017F;entiren &#x017F;ollte, wu&#x0364;rde nun in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>

[104/0112] Wer durch Studium und natuͤrliche Anlage den wahren hiſtoriſchen Blick fuͤr ſolche Unter- ſuchungen erlangt hat, wird dieſe Anſicht von der wahren Natur chriſtlicher Geiſtlichkeit gerecht- fertigt finden. Dieſen Charakter der Vermitte- lung zwiſchen den nationalen und allgemeinen, zwiſchen den vergaͤnglichen politiſchen und den ewigen religioͤſen Formen des buͤrgerlichen Le- bens hat die Geiſtlichkeit, unter allen Mißbraͤu- chen, bis in das funfzehnte Jahrhundert behaup- ret; darum war die oberſte weltliche Autoritaͤt, nach den Anſichten aller Zeiten, das Concilium, eine aus den Geiſtlichen aller Nationen zuſam- mengeſetzte oder doch von ihnen bevollmaͤchtigte Verſammlung. — So nun ſteht die Geiſtlichkeit als erſter Stand uͤber den beiden andern Staͤnden, oder ſie iſt das vermittelnde Glied zwiſchen ihnen beiden. Ich habe neulich gezeigt, daß aus einer beſtaͤn- digen Wechſelwirkung zwiſchen dem Adel und der Buͤrgerſchaft, oder zwiſchen dem Lehnsrecht und dem (nicht Roͤmiſchen, ſondern Europaͤiſchen) ſtrengeren Eigenthumsrecht eine wahre lebendige und nationale Geſetzgebung, wie die Brittiſche, hervorgeht. Die Geiſtlichkeit, welche das chriſt- liche oder allgemeine menſchliche Element aller Verfaſſungen repraͤſentiren ſollte, wuͤrde nun in

Suche im Werk

Informationen zum Werk

Titeldaten
Verfügbarkeit Text (TEI-XML-, HTML-, TCF-, E-Book-Fassung): CC BY-SA 4.0.
Nutzungsbedingungen

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ^?

Language Resource Switchboard^?

Resource/URL übermitteln

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk:	https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809
URL zu dieser Seite:	https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/112
Zitationshilfe:	Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/112>, abgerufen am 25.11.2024.

Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer Creative-Commons-Lizenz. Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken. Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.

Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.

2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de.

Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.