erweitert; wenn er sich bewegt und wächst, wie der Gegenstand wächst und sich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff von der Sache, sondern die Idee der Sache, des Staates, des Lebens. Unsre gewöhnlichen Staats-Theorieen sind Aufhäufungen von Be- griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak- tisch: sie können mit dem Leben nicht Schritt halten, weil sie auf dem Wahne beruhen, der Staat lasse sich vollständig und Ein- für allemal begreifen; sie stehen still, während der Staat in's Unendliche fortschreitet. -- Es gab z. B. in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche sich bemüheten, Begriffe von der Ge- treideausfuhr zu geben; alle diese Begriffe und darauf gebauete Vorschläge waren aber unbrauch- bar und nicht auszuführen. Da erschien die genialische, und doch so elegante und zierliche, Behandlung dieses berühmten Problems vom Abbe Gagliani; und ein plötzliches Verstum- men der alten, staatswirthschaftlichen Tonange- ber, und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs- regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden:
erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff von der Sache, ſondern die Idee der Sache, des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be- griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak- tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B. in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche ſich bemuͤheten, Begriffe von der Ge- treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch- bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche, Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom Abbe Gagliani; und ein ploͤtzliches Verſtum- men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange- ber, und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs- regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0062"n="28"/>
erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie<lb/>
der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann<lb/>
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff<lb/>
von der Sache, ſondern <hirendition="#g">die Idee</hi> der Sache,<lb/>
des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen<lb/>
Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be-<lb/>
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-<lb/>
tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt<lb/>
halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der<lb/>
Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal<lb/>
begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat<lb/>
in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B.<lb/>
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts<lb/>
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,<lb/>
welche ſich bemuͤheten, <hirendition="#g">Begriffe</hi> von der Ge-<lb/>
treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und<lb/>
darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch-<lb/>
bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die<lb/>
genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche,<lb/>
Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom<lb/>
Abbe <hirendition="#g">Gagliani</hi>; und ein ploͤtzliches Verſtum-<lb/>
men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange-<lb/>
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz<lb/>
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.<lb/>
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-<lb/>
regel, aber die <hirendition="#g">Idee</hi> des Getreidehandels; nichts<lb/>
Einzelnes davon konnte angewendet werden:<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[28/0062]
erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie
der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff
von der Sache, ſondern die Idee der Sache,
des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen
Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be-
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-
tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt
halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der
Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal
begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat
in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B.
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,
welche ſich bemuͤheten, Begriffe von der Ge-
treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und
darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch-
bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die
genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche,
Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom
Abbe Gagliani; und ein ploͤtzliches Verſtum-
men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange-
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-
regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts
Einzelnes davon konnte angewendet werden:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/62>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.