wir an Beiden eine gegenseitige gründliche Ver- achtung. Der Theoretiker stützt sich auf die Vernunft, auf die schulgerechte, symmetrische Form seiner Ansicht, und auf allgemeine Ge- setze; der Praktiker auf Erfahrung, auf die Realität und Bedeutung seines Geschäftes, und auf die Localität. Der Eine schwebt in den Lüften über allen Ländern und Zeiten; der Andre hält sich an seinen Grund und Boden, und an das, was er mit Händen greifen oder von seinem Büreau aus übersehen kann. Und so geht es denn, wenn sie Beide zu einander kommen, d. h. wenn der Praktiker ein politisches Buch, oder der Theoretiker eine praktische Anstalt un- tersucht, wie bei jenem berühmten Gastmahle, welches der Fuchs und der Storch einander ga- ben: jeder begehrt andre Speise und in ande- ren Gefäßen, als der Andre ihm vorsetzen kann. Der Eine wirft dem Andern seine idealistischen Träumereien vor, die, meint er, zwar am Ar- beitstische glänzen möchten, in der Wirklichkeit aber grund- und bodenlos wären; der Andre spricht von Schlendrian, beschränkten Gesichts- punkten und Verläugnung aller Principien; und wie sie auch Beide hierin Recht haben mögen, so taugen doch Beide nichts. --
In einem Lande wie Deutschland -- wo bei
Müllers Elemente. I. [2]
wir an Beiden eine gegenſeitige gruͤndliche Ver- achtung. Der Theoretiker ſtuͤtzt ſich auf die Vernunft, auf die ſchulgerechte, ſymmetriſche Form ſeiner Anſicht, und auf allgemeine Ge- ſetze; der Praktiker auf Erfahrung, auf die Realitaͤt und Bedeutung ſeines Geſchaͤftes, und auf die Localitaͤt. Der Eine ſchwebt in den Luͤften uͤber allen Laͤndern und Zeiten; der Andre haͤlt ſich an ſeinen Grund und Boden, und an das, was er mit Haͤnden greifen oder von ſeinem Buͤreau aus uͤberſehen kann. Und ſo geht es denn, wenn ſie Beide zu einander kommen, d. h. wenn der Praktiker ein politiſches Buch, oder der Theoretiker eine praktiſche Anſtalt un- terſucht, wie bei jenem beruͤhmten Gaſtmahle, welches der Fuchs und der Storch einander ga- ben: jeder begehrt andre Speiſe und in ande- ren Gefaͤßen, als der Andre ihm vorſetzen kann. Der Eine wirft dem Andern ſeine idealiſtiſchen Traͤumereien vor, die, meint er, zwar am Ar- beitstiſche glaͤnzen moͤchten, in der Wirklichkeit aber grund- und bodenlos waͤren; der Andre ſpricht von Schlendrian, beſchraͤnkten Geſichts- punkten und Verlaͤugnung aller Principien; und wie ſie auch Beide hierin Recht haben moͤgen, ſo taugen doch Beide nichts. —
In einem Lande wie Deutſchland — wo bei
Müllers Elemente. I. [2]
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wir an Beiden eine gegenſeitige gruͤndliche Ver-
achtung. Der Theoretiker ſtuͤtzt ſich auf die
Vernunft, auf die ſchulgerechte, ſymmetriſche
Form ſeiner Anſicht, und auf allgemeine Ge-
ſetze; der Praktiker auf Erfahrung, auf die
Realitaͤt und Bedeutung ſeines Geſchaͤftes,
und auf die Localitaͤt. Der Eine ſchwebt in
den Luͤften uͤber allen Laͤndern und Zeiten; der
Andre haͤlt ſich an ſeinen Grund und Boden, und
an das, was er mit Haͤnden greifen oder von
ſeinem Buͤreau aus uͤberſehen kann. Und ſo geht
es denn, wenn ſie Beide zu einander kommen,
d. h. wenn der Praktiker ein politiſches Buch,
oder der Theoretiker eine praktiſche Anſtalt un-
terſucht, wie bei jenem beruͤhmten Gaſtmahle,
welches der Fuchs und der Storch einander ga-
ben: jeder begehrt andre Speiſe und in ande-
ren Gefaͤßen, als der Andre ihm vorſetzen kann.
Der Eine wirft dem Andern ſeine idealiſtiſchen
Traͤumereien vor, die, meint er, zwar am Ar-
beitstiſche glaͤnzen moͤchten, in der Wirklichkeit
aber grund- und bodenlos waͤren; der Andre
ſpricht von Schlendrian, beſchraͤnkten Geſichts-
punkten und Verlaͤugnung aller Principien; und
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/51>, abgerufen am 22.11.2024.
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