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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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Bedeutung, und dem Recht eine sichtbare und
doch zugleich unendliche Ideen-Form. Die Ein-
heit der Fünf-Reiche, als Christenheit, ging
durch die religiöse Spaltung in der Reformation
verloren. An ihre Stelle trat eine Rechts-Idee,
deren Leben Stand hielt, so lange noch die Herzen
der Völker im Glauben eins blieben und nur
über die irdische Form dieses Glaubens gespaltet
waren. Aber allmählich entwich auch dieses Band
des Glaubens, und die Idee des Rechtes, die
selbst noch im Westphälischen Frieden deutlich
wahr zu nehmen ist, erstarrte zum Begriff des
auf den Buchstaben der Tractaten gegründeten
Völkerrechtes. In dem Maße, wie die Völker
nicht mehr an ihre eigene Freiheit glaubten, ging
ihnen auch das Gefühl des Rechtes verloren.
Nun war der Welt nichts weiter verblieben
von allen wahren Heiligthümern der Mensch-
heit, als der Gedanke des augenblicklichen Nut-
zens; ein arithmetischer Calcul war der Ersatz
für alle energische, lebensreiche Weisheit der Vor-
fahren. Was vermochte der Buchstabe der Tracta-
ten, da die auslegende Empfindung, das große le-
bendige Gemein-Interesse der Völker und der al-
les umfassende, alles bindende Glaube fehlte! Die
oben beschriebene * des Gleichgewichtes ward

Bedeutung, und dem Recht eine ſichtbare und
doch zugleich unendliche Ideen-Form. Die Ein-
heit der Fuͤnf-Reiche, als Chriſtenheit, ging
durch die religioͤſe Spaltung in der Reformation
verloren. An ihre Stelle trat eine Rechts-Idee,
deren Leben Stand hielt, ſo lange noch die Herzen
der Voͤlker im Glauben eins blieben und nur
uͤber die irdiſche Form dieſes Glaubens geſpaltet
waren. Aber allmaͤhlich entwich auch dieſes Band
des Glaubens, und die Idee des Rechtes, die
ſelbſt noch im Weſtphaͤliſchen Frieden deutlich
wahr zu nehmen iſt, erſtarrte zum Begriff des
auf den Buchſtaben der Tractaten gegruͤndeten
Voͤlkerrechtes. In dem Maße, wie die Voͤlker
nicht mehr an ihre eigene Freiheit glaubten, ging
ihnen auch das Gefuͤhl des Rechtes verloren.
Nun war der Welt nichts weiter verblieben
von allen wahren Heiligthuͤmern der Menſch-
heit, als der Gedanke des augenblicklichen Nut-
zens; ein arithmetiſcher Calcul war der Erſatz
fuͤr alle energiſche, lebensreiche Weisheit der Vor-
fahren. Was vermochte der Buchſtabe der Tracta-
ten, da die auslegende Empfindung, das große le-
bendige Gemein-Intereſſe der Voͤlker und der al-
les umfaſſende, alles bindende Glaube fehlte! Die
oben beſchriebene ○ des Gleichgewichtes ward

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[294/0328] Bedeutung, und dem Recht eine ſichtbare und doch zugleich unendliche Ideen-Form. Die Ein- heit der Fuͤnf-Reiche, als Chriſtenheit, ging durch die religioͤſe Spaltung in der Reformation verloren. An ihre Stelle trat eine Rechts-Idee, deren Leben Stand hielt, ſo lange noch die Herzen der Voͤlker im Glauben eins blieben und nur uͤber die irdiſche Form dieſes Glaubens geſpaltet waren. Aber allmaͤhlich entwich auch dieſes Band des Glaubens, und die Idee des Rechtes, die ſelbſt noch im Weſtphaͤliſchen Frieden deutlich wahr zu nehmen iſt, erſtarrte zum Begriff des auf den Buchſtaben der Tractaten gegruͤndeten Voͤlkerrechtes. In dem Maße, wie die Voͤlker nicht mehr an ihre eigene Freiheit glaubten, ging ihnen auch das Gefuͤhl des Rechtes verloren. Nun war der Welt nichts weiter verblieben von allen wahren Heiligthuͤmern der Menſch- heit, als der Gedanke des augenblicklichen Nut- zens; ein arithmetiſcher Calcul war der Erſatz fuͤr alle energiſche, lebensreiche Weisheit der Vor- fahren. Was vermochte der Buchſtabe der Tracta- ten, da die auslegende Empfindung, das große le- bendige Gemein-Intereſſe der Voͤlker und der al- les umfaſſende, alles bindende Glaube fehlte! Die oben beſchriebene ○ des Gleichgewichtes ward

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/328>, abgerufen am 24.11.2024.