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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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Interesse und der allgemeinen Freiheit Statt fin-
det. Ein lebendiger Staat, oder ein organischer,
ist der, welcher nach Totalität strebt, nicht nach
Vergrößerung der Summe. In einem Staate,
der nach bloßer Vergrößerung strebt, ist das
eigentliche Lebens-Princip noch nicht gekommen,
oder schon ausgestorben: er kann, sage ich, seine
Masse vergrößern; aber die Masse weicht unfehl-
bar nun auch der größeren Masse, die im Laufe
der Zeiten nicht ausbleibt. Die Europäischen
Fünf-Reiche mit ihren Accessorien waren von
Natur, wie ich oben zeigte, zu jener Totalität,
d. h. zu organischen Staaten, gebildet und er-
zogen worden. Jeder sollte ein vollständiges,
reich gegliedertes, aus unendlichen lebendigen Par-
theien zusammengewirktes Ganze darstellen, als
wachsendes Ganze gelten, und nicht als Aggre-
gat von einzelnen Massen.

In dem Umgange dieser Fünf-Reiche und
ihrer Accessorien entwickelte sich ein mächtiges,
heiliges, unsichtbares Wesen. Die christliche Re-
ligion war es, der allein jener Thron über den
lebendigen Völkern gebührte: sie gab dem gro-
ßen Gemeinwesen von Europa die Gestalt und
den sichtbaren, allen Herzen tief verständlichen,
Charakter; sie gab den Verträgen eine heilige

Intereſſe und der allgemeinen Freiheit Statt fin-
det. Ein lebendiger Staat, oder ein organiſcher,
iſt der, welcher nach Totalitaͤt ſtrebt, nicht nach
Vergroͤßerung der Summe. In einem Staate,
der nach bloßer Vergroͤßerung ſtrebt, iſt das
eigentliche Lebens-Princip noch nicht gekommen,
oder ſchon ausgeſtorben: er kann, ſage ich, ſeine
Maſſe vergroͤßern; aber die Maſſe weicht unfehl-
bar nun auch der groͤßeren Maſſe, die im Laufe
der Zeiten nicht ausbleibt. Die Europaͤiſchen
Fuͤnf-Reiche mit ihren Acceſſorien waren von
Natur, wie ich oben zeigte, zu jener Totalitaͤt,
d. h. zu organiſchen Staaten, gebildet und er-
zogen worden. Jeder ſollte ein vollſtaͤndiges,
reich gegliedertes, aus unendlichen lebendigen Par-
theien zuſammengewirktes Ganze darſtellen, als
wachſendes Ganze gelten, und nicht als Aggre-
gat von einzelnen Maſſen.

In dem Umgange dieſer Fuͤnf-Reiche und
ihrer Acceſſorien entwickelte ſich ein maͤchtiges,
heiliges, unſichtbares Weſen. Die chriſtliche Re-
ligion war es, der allein jener Thron uͤber den
lebendigen Voͤlkern gebuͤhrte: ſie gab dem gro-
ßen Gemeinweſen von Europa die Geſtalt und
den ſichtbaren, allen Herzen tief verſtaͤndlichen,
Charakter; ſie gab den Vertraͤgen eine heilige

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[293/0327] Intereſſe und der allgemeinen Freiheit Statt fin- det. Ein lebendiger Staat, oder ein organiſcher, iſt der, welcher nach Totalitaͤt ſtrebt, nicht nach Vergroͤßerung der Summe. In einem Staate, der nach bloßer Vergroͤßerung ſtrebt, iſt das eigentliche Lebens-Princip noch nicht gekommen, oder ſchon ausgeſtorben: er kann, ſage ich, ſeine Maſſe vergroͤßern; aber die Maſſe weicht unfehl- bar nun auch der groͤßeren Maſſe, die im Laufe der Zeiten nicht ausbleibt. Die Europaͤiſchen Fuͤnf-Reiche mit ihren Acceſſorien waren von Natur, wie ich oben zeigte, zu jener Totalitaͤt, d. h. zu organiſchen Staaten, gebildet und er- zogen worden. Jeder ſollte ein vollſtaͤndiges, reich gegliedertes, aus unendlichen lebendigen Par- theien zuſammengewirktes Ganze darſtellen, als wachſendes Ganze gelten, und nicht als Aggre- gat von einzelnen Maſſen. In dem Umgange dieſer Fuͤnf-Reiche und ihrer Acceſſorien entwickelte ſich ein maͤchtiges, heiliges, unſichtbares Weſen. Die chriſtliche Re- ligion war es, der allein jener Thron uͤber den lebendigen Voͤlkern gebuͤhrte: ſie gab dem gro- ßen Gemeinweſen von Europa die Geſtalt und den ſichtbaren, allen Herzen tief verſtaͤndlichen, Charakter; ſie gab den Vertraͤgen eine heilige

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/327>, abgerufen am 27.04.2024.