sie in der Exposition dieser Streitsache ihr Ge- wicht in die Schale des Schwächeren werfen: um so lebhafter, gleichmäßiger und gegenseitiger wird der Streit, um so glänzender kann die Gerechtigkeit triumphiren. Man verstehe mich nicht falsch! Das todte, abgeschlossene Gesetz und die starre Prozeßform, sage ich, heben häufig dieses Gleichgewicht auf, indem sie eine oder die andre Parthei nöthigen, ihre Sache in eine zu enge Gesetzform einzuspannen; das Eigenthümlichste der Sache geht in diesem juristischen Umgießen verloren; anstatt freien Streites und Vertra- ges zwischen dem Lebendigen und dem Lebendigen, wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwägen des Todten gegen das Todte.
Ich liebe das Symbol der Wage in den Händen der Justiz nicht, weil es ein unvollstän- diges Bild ist. In dieser Manier der Justiz er- scheinen alle Rechte wie Sachen, die Justiz selbst wie ein Verstandeshandwerk, während sie bestän- dig die Person und das Persönliche im Auge ha- ben, und, wie jede Beschäftigung freier und leben- diger Menschen, eine Kunst seyn sollte. -- Des- halb habe ich das Wesen des lebendigen Gesetzes und der lebendigen Prozeßform neulich darzustel- len gesucht, und von dem Richter verlangt, daß er allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-
ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge- wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen: um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen verloren; anſtatt freien Streites und Vertra- ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen, wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen des Todten gegen das Todte.
Ich liebe das Symbol der Wage in den Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn- diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er- ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn- dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha- ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben- diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des- halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel- len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0224"n="190"/>ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge-<lb/>
wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen:<lb/>
um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger<lb/>
wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die<lb/>
Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich<lb/>
nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und<lb/>
die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes<lb/>
Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre<lb/>
Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge<lb/>
Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte<lb/>
der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen<lb/>
verloren; anſtatt freien Streites und Vertra-<lb/>
ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen,<lb/>
wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen<lb/>
des Todten gegen das Todte.</p><lb/><p>Ich liebe das Symbol der Wage in den<lb/>
Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn-<lb/>
diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er-<lb/>ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt<lb/>
wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn-<lb/>
dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha-<lb/>
ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben-<lb/>
diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des-<lb/>
halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes<lb/>
und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel-<lb/>
len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er<lb/>
allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[190/0224]
ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge-
wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen:
um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger
wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die
Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich
nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und
die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes
Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre
Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge
Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte
der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen
verloren; anſtatt freien Streites und Vertra-
ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen,
wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen
des Todten gegen das Todte.
Ich liebe das Symbol der Wage in den
Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn-
diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er-
ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt
wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn-
dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha-
ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben-
diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des-
halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes
und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel-
len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er
allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/224>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.