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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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die Nachkommenden, her bewegt: daher der
buchstäbliche und strenge Charakter der alten Ge-
setzgebungen, daher ferner die gänzliche Unem-
pfindlichkeit der meisten gegen die Art, wie das
weibliche Geschlecht in den Staat eingreift, und
die Unterdrückung jener zarten und doch so
gewaltigen Waffen, welche das schwächere Ge-
schlecht von der Natur empfangen hat. Als
Rom gesunken war, bildete sich im christlichen
Europa, unter der Aegide einer Religion, welche
gerade die Anbetung des Schwachen und Hülf-
losen lehrte, eine neue, der alten ganz entgegen-
stehende, Gesetzgebung. Ich nenne sie "Gesetz-
gebung
," ob sie gleich keinesweges schriftlich
und in Systemen, wie die antike, sondern viel-
mehr nur in den Herzen der Völker, als unsicht-
bare Legislation der Sitten, existirte. Indeß, da
wir, wenn wir die Geschichte des Mittelalters
studieren, uns nicht verbergen können, daß sie
eigentlich regiert, und da, wie ich bereits früher
erwiesen, die alte unübersteigliche Mauer zwi-
schen Sitte und Gesetz nicht weiter bestehen
kann, und die Idee des Rechtes, also auch die
Idee des Gesetzes, beide in sich aufnimmt, das
Gesetz und die Sitte unter sich begreift: so suche
und finde ich die Gesetzgebung des Mittelalters
in dem christlich-chevaleresken Geiste aller Tha-

Müllers Elemente. I. [10]

die Nachkommenden, her bewegt: daher der
buchſtaͤbliche und ſtrenge Charakter der alten Ge-
ſetzgebungen, daher ferner die gaͤnzliche Unem-
pfindlichkeit der meiſten gegen die Art, wie das
weibliche Geſchlecht in den Staat eingreift, und
die Unterdruͤckung jener zarten und doch ſo
gewaltigen Waffen, welche das ſchwaͤchere Ge-
ſchlecht von der Natur empfangen hat. Als
Rom geſunken war, bildete ſich im chriſtlichen
Europa, unter der Aegide einer Religion, welche
gerade die Anbetung des Schwachen und Huͤlf-
loſen lehrte, eine neue, der alten ganz entgegen-
ſtehende, Geſetzgebung. Ich nenne ſie „Geſetz-
gebung
,” ob ſie gleich keinesweges ſchriftlich
und in Syſtemen, wie die antike, ſondern viel-
mehr nur in den Herzen der Voͤlker, als unſicht-
bare Legislation der Sitten, exiſtirte. Indeß, da
wir, wenn wir die Geſchichte des Mittelalters
ſtudieren, uns nicht verbergen koͤnnen, daß ſie
eigentlich regiert, und da, wie ich bereits fruͤher
erwieſen, die alte unuͤberſteigliche Mauer zwi-
ſchen Sitte und Geſetz nicht weiter beſtehen
kann, und die Idee des Rechtes, alſo auch die
Idee des Geſetzes, beide in ſich aufnimmt, das
Geſetz und die Sitte unter ſich begreift: ſo ſuche
und finde ich die Geſetzgebung des Mittelalters
in dem chriſtlich-chevaleresken Geiſte aller Tha-

Müllers Elemente. I. [10]
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[145/0179] die Nachkommenden, her bewegt: daher der buchſtaͤbliche und ſtrenge Charakter der alten Ge- ſetzgebungen, daher ferner die gaͤnzliche Unem- pfindlichkeit der meiſten gegen die Art, wie das weibliche Geſchlecht in den Staat eingreift, und die Unterdruͤckung jener zarten und doch ſo gewaltigen Waffen, welche das ſchwaͤchere Ge- ſchlecht von der Natur empfangen hat. Als Rom geſunken war, bildete ſich im chriſtlichen Europa, unter der Aegide einer Religion, welche gerade die Anbetung des Schwachen und Huͤlf- loſen lehrte, eine neue, der alten ganz entgegen- ſtehende, Geſetzgebung. Ich nenne ſie „Geſetz- gebung,” ob ſie gleich keinesweges ſchriftlich und in Syſtemen, wie die antike, ſondern viel- mehr nur in den Herzen der Voͤlker, als unſicht- bare Legislation der Sitten, exiſtirte. Indeß, da wir, wenn wir die Geſchichte des Mittelalters ſtudieren, uns nicht verbergen koͤnnen, daß ſie eigentlich regiert, und da, wie ich bereits fruͤher erwieſen, die alte unuͤberſteigliche Mauer zwi- ſchen Sitte und Geſetz nicht weiter beſtehen kann, und die Idee des Rechtes, alſo auch die Idee des Geſetzes, beide in ſich aufnimmt, das Geſetz und die Sitte unter ſich begreift: ſo ſuche und finde ich die Geſetzgebung des Mittelalters in dem chriſtlich-chevaleresken Geiſte aller Tha- Müllers Elemente. I. [10]

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/179>, abgerufen am 24.11.2024.