ment, zu erbauen scheinen, und daß sie die er- habenen Gründe der Dauer des Staates und seine vorzüglichsten Bindungsmittel -- wohin vor allen andern der Geburtsadel gehört -- nicht kennen und nicht würdigen. --
Im Mittelalter war die ganze Staatslehre mehr Gefühl als Wissenschaft; aber alles Ge- meinwesen bewegte sich um zwei sehr verschiedene Gefühle: 1) um die Ehrfurcht vor dem Worte, das die Zeitgenossen einander gaben; 2) um die eben so tief gegründete Ehrfurcht vor dem Worte, vor dem Gesetze, das die Vorfahren den Nach- kommen hinterlassen hatten. Diese Barbaren des Mittelalters fühlten sehr wohl, daß die Ver- pflichtung des Bürgers eine doppelte und gleich- ehrwürdige sey; während wir unsre Social-Con- tracte bloß von den Zeitgenossen schließen lassen, die Social-Contracte zwischen den vorangegange- nen und nachfolgenden Geschlechtern hingegen nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zer- reißen.
Endlich -- und das ist nun in denen Tagen ge- schehen, die wir selbst erlebt haben -- wurde eine Generation, die gegenwärtige, vollständig und in allen Stücken abtrünnig von allen vorange- gangenen Generationen und Raumgenossen, ver- suchte es ganz für sich allein und ohne Alliirte
ment, zu erbauen ſcheinen, und daß ſie die er- habenen Gruͤnde der Dauer des Staates und ſeine vorzuͤglichſten Bindungsmittel — wohin vor allen andern der Geburtsadel gehoͤrt — nicht kennen und nicht wuͤrdigen. —
Im Mittelalter war die ganze Staatslehre mehr Gefuͤhl als Wiſſenſchaft; aber alles Ge- meinweſen bewegte ſich um zwei ſehr verſchiedene Gefuͤhle: 1) um die Ehrfurcht vor dem Worte, das die Zeitgenoſſen einander gaben; 2) um die eben ſo tief gegruͤndete Ehrfurcht vor dem Worte, vor dem Geſetze, das die Vorfahren den Nach- kommen hinterlaſſen hatten. Dieſe Barbaren des Mittelalters fuͤhlten ſehr wohl, daß die Ver- pflichtung des Buͤrgers eine doppelte und gleich- ehrwuͤrdige ſey; waͤhrend wir unſre Social-Con- tracte bloß von den Zeitgenoſſen ſchließen laſſen, die Social-Contracte zwiſchen den vorangegange- nen und nachfolgenden Geſchlechtern hingegen nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zer- reißen.
Endlich — und das iſt nun in denen Tagen ge- ſchehen, die wir ſelbſt erlebt haben — wurde eine Generation, die gegenwaͤrtige, vollſtaͤndig und in allen Stuͤcken abtruͤnnig von allen vorange- gangenen Generationen und Raumgenoſſen, ver- ſuchte es ganz fuͤr ſich allein und ohne Alliirte
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ment, zu erbauen ſcheinen, und daß ſie die er-
habenen Gruͤnde der Dauer des Staates und
ſeine vorzuͤglichſten Bindungsmittel — wohin
vor allen andern der Geburtsadel gehoͤrt —
nicht kennen und nicht wuͤrdigen. —
Im Mittelalter war die ganze Staatslehre
mehr Gefuͤhl als Wiſſenſchaft; aber alles Ge-
meinweſen bewegte ſich um zwei ſehr verſchiedene
Gefuͤhle: 1) um die Ehrfurcht vor dem Worte,
das die Zeitgenoſſen einander gaben; 2) um die
eben ſo tief gegruͤndete Ehrfurcht vor dem Worte,
vor dem Geſetze, das die Vorfahren den Nach-
kommen hinterlaſſen hatten. Dieſe Barbaren
des Mittelalters fuͤhlten ſehr wohl, daß die Ver-
pflichtung des Buͤrgers eine doppelte und gleich-
ehrwuͤrdige ſey; waͤhrend wir unſre Social-Con-
tracte bloß von den Zeitgenoſſen ſchließen laſſen,
die Social-Contracte zwiſchen den vorangegange-
nen und nachfolgenden Geſchlechtern hingegen
nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zer-
reißen.
Endlich — und das iſt nun in denen Tagen ge-
ſchehen, die wir ſelbſt erlebt haben — wurde eine
Generation, die gegenwaͤrtige, vollſtaͤndig und
in allen Stuͤcken abtruͤnnig von allen vorange-
gangenen Generationen und Raumgenoſſen, ver-
ſuchte es ganz fuͤr ſich allein und ohne Alliirte
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/119>, abgerufen am 22.11.2024.
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