Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_054.001 Daß reine Lust fade und ermüdend wirkt, können wir überall im Leben pmu_054.005 Jn der Tat zeigt sich, daß die stärksten Wirkungen in der Dichtung stets pmu_054.023 8. Eine der wichtigsten Wirkungen, deren Erfolg über die Jahrtausende pmu_054.038 pmu_054.001 Daß reine Lust fade und ermüdend wirkt, können wir überall im Leben pmu_054.005 Jn der Tat zeigt sich, daß die stärksten Wirkungen in der Dichtung stets pmu_054.023 8. Eine der wichtigsten Wirkungen, deren Erfolg über die Jahrtausende pmu_054.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="54"/><lb n="pmu_054.001"/> empfinden wir ein dargestelltes Glück erst als Glück, wenn es eine Lösung <lb n="pmu_054.002"/> aus Sturm und Qual ist. Das Nacheinander klingt zusammen zum <lb n="pmu_054.003"/> Nebeneinander.</p> <lb n="pmu_054.004"/> <p> Daß reine Lust fade und ermüdend wirkt, können wir überall im Leben <lb n="pmu_054.005"/> beobachten. Wie diejenigen Speisen am höchsten gewertet werden, die <lb n="pmu_054.006"/> am raffiniertesten Lust und Unlust mischen, das Süße durch Bitterkeit <lb n="pmu_054.007"/> oder Schärfe würzen, so ist's in aller Kunst. Und zwar können wir in den <lb n="pmu_054.008"/> einzelnen Künsten eine ganz bestimmte Kurve bemerken, die von einer <lb n="pmu_054.009"/> geringeren Unlustbeimischung zu immer stärkeren Dosen führt und ins <lb n="pmu_054.010"/> krankhaft Pervertierte umschlagen kann, so daß etwas, was normalen <lb n="pmu_054.011"/> Menschen nur reine Unlust, Ekel, Widerwille zu erregen pflegt, von besonders <lb n="pmu_054.012"/> raffinierten Jndividuen noch als höchst pikantes Mischgefühl von <lb n="pmu_054.013"/> prickelndem Zauber genossen werden kann. Analysiert man jene Gefühle, <lb n="pmu_054.014"/> die Dichter wie Baudelaire, Wedekind, Heinrich Mann zu erregen lieben, <lb n="pmu_054.015"/> so wird man Beispiele genug finden, daß Ekel und Abscheugefühle künstlerisch <lb n="pmu_054.016"/> als positive Wirkungen verwandt werden. Auch bei ganz großen <lb n="pmu_054.017"/> Künstlern kommt solches zuweilen vor. Wenn man bedenkt, in welchen <lb n="pmu_054.018"/> Schauerlichkeiten Dostojewski in den Brüdern Karamasow herumwühlt, <lb n="pmu_054.019"/> so wird auch in diesen Fällen der natürlich empfindende Leser das als <lb n="pmu_054.020"/> krankhaft bewerten, obwohl das natürlich die Möglichkeit künstlerischer <lb n="pmu_054.021"/> Wirkungen nicht ausschließt.</p> <lb n="pmu_054.022"/> <p> Jn der Tat zeigt sich, daß die stärksten Wirkungen in der Dichtung stets <lb n="pmu_054.023"/> durch die Erregung von Mischgefühlen ausgegangen sind. So tragen die <lb n="pmu_054.024"/> beiden ausgeprägtesten Formen der poetischen Wirkung, Tragik wie <lb n="pmu_054.025"/> Komik, unverkennbaren Mischcharakter. Und zwar hat man zwei Arten <lb n="pmu_054.026"/> von Mischgefühlen unterschieden: die ruhigen und die prickelnden oder <lb n="pmu_054.027"/> pikanten. Jn Wirklichkeit führt ein kontinuierlicher Übergang von den <lb n="pmu_054.028"/> einen zu den andern, was den Wert der beiden Unterscheidungen natürlich <lb n="pmu_054.029"/> nicht aufhebt, obwohl der Unterschied nur in der stärkeren Dosis von <lb n="pmu_054.030"/> Unlust liegt, der den pikanten Mischgefühlen innewohnt. Dadurch wird <lb n="pmu_054.031"/> auch der ethische Charakter verschoben; denn es ist ethisch nicht gleichgültig, <lb n="pmu_054.032"/> ob sich die Gefühle der Menschen so pervertieren, daß Unlust als <lb n="pmu_054.033"/> Lust empfunden wird. Genau so wie sich physisch ein allzu starkes Schwelgen <lb n="pmu_054.034"/> in Pikanterien von Speisen und Trank zu rächen pflegt, so auch psychisch. <lb n="pmu_054.035"/> Davon jedoch später. Vorläufig wende ich mich zu einer Analyse der beiden <lb n="pmu_054.036"/> wichtigsten Wirkungsarten der Poesie, des Tragischen und des Komischen.</p> <lb n="pmu_054.037"/> </div> <div n="3"> <p> 8. Eine der wichtigsten Wirkungen, deren Erfolg über die Jahrtausende <lb n="pmu_054.038"/> hin erprobt ist, stellt die <hi rendition="#g">tragische</hi> Wirkung dar. Vergleicht man jedoch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [54/0064]
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empfinden wir ein dargestelltes Glück erst als Glück, wenn es eine Lösung pmu_054.002
aus Sturm und Qual ist. Das Nacheinander klingt zusammen zum pmu_054.003
Nebeneinander.
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Daß reine Lust fade und ermüdend wirkt, können wir überall im Leben pmu_054.005
beobachten. Wie diejenigen Speisen am höchsten gewertet werden, die pmu_054.006
am raffiniertesten Lust und Unlust mischen, das Süße durch Bitterkeit pmu_054.007
oder Schärfe würzen, so ist's in aller Kunst. Und zwar können wir in den pmu_054.008
einzelnen Künsten eine ganz bestimmte Kurve bemerken, die von einer pmu_054.009
geringeren Unlustbeimischung zu immer stärkeren Dosen führt und ins pmu_054.010
krankhaft Pervertierte umschlagen kann, so daß etwas, was normalen pmu_054.011
Menschen nur reine Unlust, Ekel, Widerwille zu erregen pflegt, von besonders pmu_054.012
raffinierten Jndividuen noch als höchst pikantes Mischgefühl von pmu_054.013
prickelndem Zauber genossen werden kann. Analysiert man jene Gefühle, pmu_054.014
die Dichter wie Baudelaire, Wedekind, Heinrich Mann zu erregen lieben, pmu_054.015
so wird man Beispiele genug finden, daß Ekel und Abscheugefühle künstlerisch pmu_054.016
als positive Wirkungen verwandt werden. Auch bei ganz großen pmu_054.017
Künstlern kommt solches zuweilen vor. Wenn man bedenkt, in welchen pmu_054.018
Schauerlichkeiten Dostojewski in den Brüdern Karamasow herumwühlt, pmu_054.019
so wird auch in diesen Fällen der natürlich empfindende Leser das als pmu_054.020
krankhaft bewerten, obwohl das natürlich die Möglichkeit künstlerischer pmu_054.021
Wirkungen nicht ausschließt.
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Jn der Tat zeigt sich, daß die stärksten Wirkungen in der Dichtung stets pmu_054.023
durch die Erregung von Mischgefühlen ausgegangen sind. So tragen die pmu_054.024
beiden ausgeprägtesten Formen der poetischen Wirkung, Tragik wie pmu_054.025
Komik, unverkennbaren Mischcharakter. Und zwar hat man zwei Arten pmu_054.026
von Mischgefühlen unterschieden: die ruhigen und die prickelnden oder pmu_054.027
pikanten. Jn Wirklichkeit führt ein kontinuierlicher Übergang von den pmu_054.028
einen zu den andern, was den Wert der beiden Unterscheidungen natürlich pmu_054.029
nicht aufhebt, obwohl der Unterschied nur in der stärkeren Dosis von pmu_054.030
Unlust liegt, der den pikanten Mischgefühlen innewohnt. Dadurch wird pmu_054.031
auch der ethische Charakter verschoben; denn es ist ethisch nicht gleichgültig, pmu_054.032
ob sich die Gefühle der Menschen so pervertieren, daß Unlust als pmu_054.033
Lust empfunden wird. Genau so wie sich physisch ein allzu starkes Schwelgen pmu_054.034
in Pikanterien von Speisen und Trank zu rächen pflegt, so auch psychisch. pmu_054.035
Davon jedoch später. Vorläufig wende ich mich zu einer Analyse der beiden pmu_054.036
wichtigsten Wirkungsarten der Poesie, des Tragischen und des Komischen.
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8. Eine der wichtigsten Wirkungen, deren Erfolg über die Jahrtausende pmu_054.038
hin erprobt ist, stellt die tragische Wirkung dar. Vergleicht man jedoch
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