Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_052.001 Vom religiösen Stoffgebiet ist es kein sehr weiter Schritt mehr zu jenem pmu_052.028 pmu_052.001 Vom religiösen Stoffgebiet ist es kein sehr weiter Schritt mehr zu jenem pmu_052.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0062" n="52"/><lb n="pmu_052.001"/> ein. Man hat sogar einseitigerweise den Ursprung <hi rendition="#g">aller</hi> Poesie, wie aus <lb n="pmu_052.002"/> der Erotik, aus religiösen Gefühlen herleiten wollen, was mindestens ebenso <lb n="pmu_052.003"/> einseitig ist wie die Theorie, die alles aus Erotik erklärt. Eher könnte <lb n="pmu_052.004"/> man sagen, alle Religion verdankt ihren Ursprung einer dichterischen Tätigkeit <lb n="pmu_052.005"/> der Seele, und jedenfalls besteht eine nahe Verwandtschaft zwischen <lb n="pmu_052.006"/> der Schaffung von Mythen und der Dichtung. Jm Grunde sind <lb n="pmu_052.007"/> alle Götter poetische Erzeugnisse. Wir haben bereits gesehen, daß es teils <lb n="pmu_052.008"/> die Furcht, teils Gefühle der Sympathie sind, die solche höheren Wesen <lb n="pmu_052.009"/> schaffen. Hier indessen haben wir es nicht mit dem Ursprung, sondern <lb n="pmu_052.010"/> dem Grund der Verbreitung der religiösen Poesie zu tun, und dieser <lb n="pmu_052.011"/> Grund liegt auf sozialem Gebiete. Die Poesie war ein unentbehrliches <lb n="pmu_052.012"/> Moment für den Kultus im weitesten Sinne. Fast alle religiöse Poesie, <lb n="pmu_052.013"/> besonders in den Anfängen, ist Kultpoesie. Die Opferhymnen der Veden, <lb n="pmu_052.014"/> die Psalmen, selbst das attische Drama in seinen Anfängen waren <lb n="pmu_052.015"/> Kultpoesie. Neben dem Opfer waren die religiösen Hymnen, also Poesie <lb n="pmu_052.016"/> von Musik unterstützt, das Hauptelement aller religiösen Kulte. Der <lb n="pmu_052.017"/> Grund für die außerordentliche Verbreitung der religiösen Dichtung <lb n="pmu_052.018"/> hängt also zum guten Teil mit dieser sozialen Verwendung zusammen. <lb n="pmu_052.019"/> Aber natürlich gibt es noch andre Gründe, so vor allem den, daß das Schaffen <lb n="pmu_052.020"/> oder Lesen von religiöser Poesie eine der wenigen Formen ist, durch <lb n="pmu_052.021"/> die der Mensch sich in Kontakt bringen kann mit den höheren Welten, <lb n="pmu_052.022"/> denen seine Andacht gilt. So ist bis auf den heutigen Tag die Dichtung <lb n="pmu_052.023"/> noch religionsschöpferisch. Gewiß sind das zum großen Teil außerästhetische <lb n="pmu_052.024"/> Werte, aber man wird eben der Dichtung nicht gerecht, wenn man <lb n="pmu_052.025"/> sie nicht beständig im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Lebens <lb n="pmu_052.026"/> betrachtet.</p> <lb n="pmu_052.027"/> <p> Vom religiösen Stoffgebiet ist es kein sehr weiter Schritt mehr zu jenem <lb n="pmu_052.028"/> andern, das Goethe als die „dritte Welt“ als gleichberechtigt neben die <lb n="pmu_052.029"/> „äußere“ und die „innere“ stellt, wo er von den Stoffgebieten spricht. <lb n="pmu_052.030"/> Es ist die Welt der Ahnungen, der Träume, des Geisterspuks und ähnlicher <lb n="pmu_052.031"/> Dinge, die seit alters als Gebiet des „<hi rendition="#g">Wunderbaren</hi>“ eine große Rolle <lb n="pmu_052.032"/> in der Dichtung aller Art gespielt haben. Und es gibt zu denken, daß selbst <lb n="pmu_052.033"/> die moderne, auf Realismus gerichtete Poesie nicht auskommt ohne derartige <lb n="pmu_052.034"/> Motive. Ja, wir haben gerade bei Dichtern, die eben ganz realistisch <lb n="pmu_052.035"/> daher kamen, die Erscheinung, daß sie plötzlich mit beiden Füßen <lb n="pmu_052.036"/> ins Übersinnliche hineinspringen. Hauptmanns „Weber“ und sein „Hannele“, <lb n="pmu_052.037"/> der „Fuhrmann Henschel“ und die „Versunkene Glocke“ liegen zeitlich <lb n="pmu_052.038"/> nahe beieinander. — Daß Dichter bei ihrer großen Sensibilität und </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0062]
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ein. Man hat sogar einseitigerweise den Ursprung aller Poesie, wie aus pmu_052.002
der Erotik, aus religiösen Gefühlen herleiten wollen, was mindestens ebenso pmu_052.003
einseitig ist wie die Theorie, die alles aus Erotik erklärt. Eher könnte pmu_052.004
man sagen, alle Religion verdankt ihren Ursprung einer dichterischen Tätigkeit pmu_052.005
der Seele, und jedenfalls besteht eine nahe Verwandtschaft zwischen pmu_052.006
der Schaffung von Mythen und der Dichtung. Jm Grunde sind pmu_052.007
alle Götter poetische Erzeugnisse. Wir haben bereits gesehen, daß es teils pmu_052.008
die Furcht, teils Gefühle der Sympathie sind, die solche höheren Wesen pmu_052.009
schaffen. Hier indessen haben wir es nicht mit dem Ursprung, sondern pmu_052.010
dem Grund der Verbreitung der religiösen Poesie zu tun, und dieser pmu_052.011
Grund liegt auf sozialem Gebiete. Die Poesie war ein unentbehrliches pmu_052.012
Moment für den Kultus im weitesten Sinne. Fast alle religiöse Poesie, pmu_052.013
besonders in den Anfängen, ist Kultpoesie. Die Opferhymnen der Veden, pmu_052.014
die Psalmen, selbst das attische Drama in seinen Anfängen waren pmu_052.015
Kultpoesie. Neben dem Opfer waren die religiösen Hymnen, also Poesie pmu_052.016
von Musik unterstützt, das Hauptelement aller religiösen Kulte. Der pmu_052.017
Grund für die außerordentliche Verbreitung der religiösen Dichtung pmu_052.018
hängt also zum guten Teil mit dieser sozialen Verwendung zusammen. pmu_052.019
Aber natürlich gibt es noch andre Gründe, so vor allem den, daß das Schaffen pmu_052.020
oder Lesen von religiöser Poesie eine der wenigen Formen ist, durch pmu_052.021
die der Mensch sich in Kontakt bringen kann mit den höheren Welten, pmu_052.022
denen seine Andacht gilt. So ist bis auf den heutigen Tag die Dichtung pmu_052.023
noch religionsschöpferisch. Gewiß sind das zum großen Teil außerästhetische pmu_052.024
Werte, aber man wird eben der Dichtung nicht gerecht, wenn man pmu_052.025
sie nicht beständig im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Lebens pmu_052.026
betrachtet.
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Vom religiösen Stoffgebiet ist es kein sehr weiter Schritt mehr zu jenem pmu_052.028
andern, das Goethe als die „dritte Welt“ als gleichberechtigt neben die pmu_052.029
„äußere“ und die „innere“ stellt, wo er von den Stoffgebieten spricht. pmu_052.030
Es ist die Welt der Ahnungen, der Träume, des Geisterspuks und ähnlicher pmu_052.031
Dinge, die seit alters als Gebiet des „Wunderbaren“ eine große Rolle pmu_052.032
in der Dichtung aller Art gespielt haben. Und es gibt zu denken, daß selbst pmu_052.033
die moderne, auf Realismus gerichtete Poesie nicht auskommt ohne derartige pmu_052.034
Motive. Ja, wir haben gerade bei Dichtern, die eben ganz realistisch pmu_052.035
daher kamen, die Erscheinung, daß sie plötzlich mit beiden Füßen pmu_052.036
ins Übersinnliche hineinspringen. Hauptmanns „Weber“ und sein „Hannele“, pmu_052.037
der „Fuhrmann Henschel“ und die „Versunkene Glocke“ liegen zeitlich pmu_052.038
nahe beieinander. — Daß Dichter bei ihrer großen Sensibilität und
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