Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_040.001 Ganz anders stellt sich uns etwa das Bild Schillers dar, wenn wir pmu_040.025 pmu_040.001 Ganz anders stellt sich uns etwa das Bild Schillers dar, wenn wir pmu_040.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0050" n="40"/><lb n="pmu_040.001"/> bekanntesten Dichterpersönlichkeiten nach den von uns gegebenen Handhaben <lb n="pmu_040.002"/> ihre Jndividualität zu bestimmen. Nehmen wir zuerst <hi rendition="#g">Goethe.</hi> <lb n="pmu_040.003"/> Er ist zunächst, wie alle in seiner Zeit, individualistischer, nicht konventioneller <lb n="pmu_040.004"/> Dichter, und zwar gehört er ganz entschieden den Ausdrucksdichtern <lb n="pmu_040.005"/> zu; denn wiederholt hat er all seine Dichtungen als Bruchstücke einer großen <lb n="pmu_040.006"/> Konfession bezeichnet. Trotzdem ist infolge seiner starken Beobachtungsgabe <lb n="pmu_040.007"/> auch die objektive Seite in seinen Werken stark ausgebildet. Jm <lb n="pmu_040.008"/> übrigen gehört er mehr den sensiblen als den eigentlich aktiven Naturen <lb n="pmu_040.009"/> zu, wenigstens seiner Anlage nach, während seine Neigung, die ja nach <lb n="pmu_040.010"/> Plato immer zum Teil dem Haben, zum Teil dem Nichthaben entspringt, <lb n="pmu_040.011"/> doch oft nach der Seite der Aktivität ging und er gern seine von Natur sensiblen <lb n="pmu_040.012"/> Helden, Wilhelm Meister, Faust usw. zur <hi rendition="#aq">vita activa</hi> gelangen läßt. <lb n="pmu_040.013"/> Jn ähnlicher Weise hat er sich bewußt vom Speziellseher zum Typenseher <lb n="pmu_040.014"/> erzogen, ohne dabei je seine ursprüngliche Natur zu verleugnen. <lb n="pmu_040.015"/> Was die Art seines Arbeitens anlangt, so war er entschieden Modelldichter; <lb n="pmu_040.016"/> wenige Figuren nur sind aus seiner Phantasie erschaffen. Wissen und Gelehrsamkeit <lb n="pmu_040.017"/> treten erst in seiner Alterspoesie stärker auf, in der Jugend <lb n="pmu_040.018"/> war er entschieden mehr Volksdichter, ungelehrt und naiv. Was seine <lb n="pmu_040.019"/> typische Gefühlslage angeht, so ist ein Urteil hier nicht ganz einfach. Während <lb n="pmu_040.020"/> man ihn als den Glücklichsten der Sterblichen gepriesen hat, gesteht <lb n="pmu_040.021"/> er selbst, nur selten in seinem Leben sich wirklich glücklich gefühlt zu haben. <lb n="pmu_040.022"/> Was die einzelnen Affekte in seinem Dichten anlangt, so kann wohl kein <lb n="pmu_040.023"/> Zweifel an seiner ausgesprochen erotischen Veranlagung sein.</p> <lb n="pmu_040.024"/> <p> Ganz anders stellt sich uns etwa das Bild <hi rendition="#g">Schillers</hi> dar, wenn wir <lb n="pmu_040.025"/> es nach den aufgestellten Gesichtspunkten betrachten. Wie Goethe gehört <lb n="pmu_040.026"/> auch er einem individualistischen Zeitalter an, unterscheidet sich aber von <lb n="pmu_040.027"/> jenem dadurch, daß er weniger Ausdrucks- als vielmehr Gestaltungsdichter <lb n="pmu_040.028"/> ist. Er nahm seine Stoffe, wie er sie fand und wie sie ihm aus den verschiedensten <lb n="pmu_040.029"/> Gründen sich als wirksam darstellten. Das persönliche Erleben, <lb n="pmu_040.030"/> das darin zum Ausdruck gelangt, ist meist sekundär. Auf Gestaltung, <lb n="pmu_040.031"/> nicht auf Ausdruck kommt es ihm an. Trotzdem ist er bei seiner <lb n="pmu_040.032"/> schwachen Beobachtungsgabe viel subjektiver als Goethe, womit auch zusammenhängt, <lb n="pmu_040.033"/> daß er keine sensible, sondern eine ausgesprochen aktive <lb n="pmu_040.034"/> Natur war, daß er kein Speziellseher, sondern ein Typenseher war, und <lb n="pmu_040.035"/> daß er keine bestimmten Modelle für seine Figuren nahm, sondern sie <lb n="pmu_040.036"/> meist aus freier Phantasie gestaltete. Jn allen diesen Dingen ist er also <lb n="pmu_040.037"/> Goethe entgegengesetzt. Er ist weniger naiv, Gelehrsamkeit historischer <lb n="pmu_040.038"/> und philosophischer Art tritt stark heraus in seiner Dichtung. Seiner Gefühlslage </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0050]
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bekanntesten Dichterpersönlichkeiten nach den von uns gegebenen Handhaben pmu_040.002
ihre Jndividualität zu bestimmen. Nehmen wir zuerst Goethe. pmu_040.003
Er ist zunächst, wie alle in seiner Zeit, individualistischer, nicht konventioneller pmu_040.004
Dichter, und zwar gehört er ganz entschieden den Ausdrucksdichtern pmu_040.005
zu; denn wiederholt hat er all seine Dichtungen als Bruchstücke einer großen pmu_040.006
Konfession bezeichnet. Trotzdem ist infolge seiner starken Beobachtungsgabe pmu_040.007
auch die objektive Seite in seinen Werken stark ausgebildet. Jm pmu_040.008
übrigen gehört er mehr den sensiblen als den eigentlich aktiven Naturen pmu_040.009
zu, wenigstens seiner Anlage nach, während seine Neigung, die ja nach pmu_040.010
Plato immer zum Teil dem Haben, zum Teil dem Nichthaben entspringt, pmu_040.011
doch oft nach der Seite der Aktivität ging und er gern seine von Natur sensiblen pmu_040.012
Helden, Wilhelm Meister, Faust usw. zur vita activa gelangen läßt. pmu_040.013
Jn ähnlicher Weise hat er sich bewußt vom Speziellseher zum Typenseher pmu_040.014
erzogen, ohne dabei je seine ursprüngliche Natur zu verleugnen. pmu_040.015
Was die Art seines Arbeitens anlangt, so war er entschieden Modelldichter; pmu_040.016
wenige Figuren nur sind aus seiner Phantasie erschaffen. Wissen und Gelehrsamkeit pmu_040.017
treten erst in seiner Alterspoesie stärker auf, in der Jugend pmu_040.018
war er entschieden mehr Volksdichter, ungelehrt und naiv. Was seine pmu_040.019
typische Gefühlslage angeht, so ist ein Urteil hier nicht ganz einfach. Während pmu_040.020
man ihn als den Glücklichsten der Sterblichen gepriesen hat, gesteht pmu_040.021
er selbst, nur selten in seinem Leben sich wirklich glücklich gefühlt zu haben. pmu_040.022
Was die einzelnen Affekte in seinem Dichten anlangt, so kann wohl kein pmu_040.023
Zweifel an seiner ausgesprochen erotischen Veranlagung sein.
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Ganz anders stellt sich uns etwa das Bild Schillers dar, wenn wir pmu_040.025
es nach den aufgestellten Gesichtspunkten betrachten. Wie Goethe gehört pmu_040.026
auch er einem individualistischen Zeitalter an, unterscheidet sich aber von pmu_040.027
jenem dadurch, daß er weniger Ausdrucks- als vielmehr Gestaltungsdichter pmu_040.028
ist. Er nahm seine Stoffe, wie er sie fand und wie sie ihm aus den verschiedensten pmu_040.029
Gründen sich als wirksam darstellten. Das persönliche Erleben, pmu_040.030
das darin zum Ausdruck gelangt, ist meist sekundär. Auf Gestaltung, pmu_040.031
nicht auf Ausdruck kommt es ihm an. Trotzdem ist er bei seiner pmu_040.032
schwachen Beobachtungsgabe viel subjektiver als Goethe, womit auch zusammenhängt, pmu_040.033
daß er keine sensible, sondern eine ausgesprochen aktive pmu_040.034
Natur war, daß er kein Speziellseher, sondern ein Typenseher war, und pmu_040.035
daß er keine bestimmten Modelle für seine Figuren nahm, sondern sie pmu_040.036
meist aus freier Phantasie gestaltete. Jn allen diesen Dingen ist er also pmu_040.037
Goethe entgegengesetzt. Er ist weniger naiv, Gelehrsamkeit historischer pmu_040.038
und philosophischer Art tritt stark heraus in seiner Dichtung. Seiner Gefühlslage
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