Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_023.001 So viel ist außer Zweifel, daß für das Zustandekommen einer Jndividualität pmu_023.004 Keineswegs ist auch viel damit erklärt, wenn man die "Rasse" heranzieht. pmu_023.020 Jmmerhin jedoch scheint es, daß die äußeren Umstände doch der wichtigere pmu_023.033 pmu_023.001 So viel ist außer Zweifel, daß für das Zustandekommen einer Jndividualität pmu_023.004 Keineswegs ist auch viel damit erklärt, wenn man die „Rasse“ heranzieht. pmu_023.020 Jmmerhin jedoch scheint es, daß die äußeren Umstände doch der wichtigere pmu_023.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0033" n="23"/><lb n="pmu_023.001"/> denn dafür sind die Faktoren selber viel zu unbestimmt und vage, <lb n="pmu_023.002"/> als daß sich daraus eine <hi rendition="#g">notwendige</hi> Entwicklung ableiten ließe.</p> <lb n="pmu_023.003"/> <p> So viel ist außer Zweifel, daß für das Zustandekommen einer Jndividualität <lb n="pmu_023.004"/> stets innere und äußere Faktoren zusammenwirken müssen. Alle <lb n="pmu_023.005"/> Bildungen entstehen durch das Zusammenwirken <hi rendition="#g">beider</hi> Arten, stets <lb n="pmu_023.006"/> findet ein Annehmen oder Verwerfen der äußeren Faktoren durch innere <lb n="pmu_023.007"/> statt, ebenso wie die äußeren wieder die inneren anregen und zur Aktion <lb n="pmu_023.008"/> bringen. Wie groß aber im einzelnen die Beteiligung der betreffenden <lb n="pmu_023.009"/> Faktoren gewesen ist, läßt sich nirgends ermessen; ebensowenig können <lb n="pmu_023.010"/> wir der gewordenen Persönlichkeit ansehen, wieviel bei ihr auf Rechnung <lb n="pmu_023.011"/> von Vererbung und wieviel auf Rechnung des Milieus zu setzen ist. <lb n="pmu_023.012"/> Wir können z. B. nicht das Geringste darüber angeben, was aus Schiller <lb n="pmu_023.013"/> geworden wäre, wenn er in einem andern Milieu groß geworden wäre, <lb n="pmu_023.014"/> ob etwa seine leidenschaftliche Energie ein Produkt seines Lebens war <lb n="pmu_023.015"/> oder ob dieses Leben nur so geworden ist, weil er eben so veranlagt war. <lb n="pmu_023.016"/> Überall werden wir uns an die fertige Tatsache halten und dabei auf <lb n="pmu_023.017"/> den naiven Glauben verzichten müssen, mit ein paar Faktoren diese Tatsachen <lb n="pmu_023.018"/> „erklären“ zu können.</p> <lb n="pmu_023.019"/> <p> Keineswegs ist auch viel damit erklärt, wenn man die „Rasse“ heranzieht. <lb n="pmu_023.020"/> Der Rassenbegriff ist nur gewonnen durch eine Addition von Jndividuen. <lb n="pmu_023.021"/> Es ist also weiter nichts als eine <hi rendition="#g">Analogie,</hi> aber keine Erklärung, <lb n="pmu_023.022"/> wenn ich sage, einer hat diese Eigenschaft, weil er Slawe ist; denn <lb n="pmu_023.023"/> ich sage damit nur aus, daß auch bei andern Leuten derselben Abstammung <lb n="pmu_023.024"/> sich solche Eigenschaften finden, was doch wahrhaftig nicht erklärt, warum <lb n="pmu_023.025"/> der einzelne dazu kommt. Außerdem ist es aus den schon oben berührten <lb n="pmu_023.026"/> Gründen niemals möglich, zu sagen, wieviel der angeborenen Anlage, <lb n="pmu_023.027"/> wieviel den äußeren Einflüssen zuzuschreiben ist. Man hat Beispiele in <lb n="pmu_023.028"/> Fülle, aus denen sich Beweise für wie gegen jede dieser Stellungnahmen <lb n="pmu_023.029"/> ableiten lassen. Jn Wirklichkeit liegt die Sache immer so, daß innere und <lb n="pmu_023.030"/> äußere Umstände zusammenwirken; es ist jedoch nirgends nachzuweisen, <lb n="pmu_023.031"/> welches von beiden und in welchem Maße es entscheidend war.</p> <lb n="pmu_023.032"/> <p> Jmmerhin jedoch scheint es, daß die äußeren Umstände doch der wichtigere <lb n="pmu_023.033"/> Faktor sind, wenigstens sind sie der sichtbarere, für den wir feste <lb n="pmu_023.034"/> Handhaben besitzen. Denn es wird sich nachher bei der Betrachtung der <lb n="pmu_023.035"/> dichterischen Jndividualitäten erweisen, daß in jeder Zeit gewisse Veranlagungen <lb n="pmu_023.036"/> unbedingt dominieren, was beweist, daß Mode, Suggestion <lb n="pmu_023.037"/> aller Art auch die innere Wesensart eines Dichters entscheidend beeinflussen <lb n="pmu_023.038"/> können. Jndessen haben wir wiederum Fälle, wo sich eine Jndividualität </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0033]
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denn dafür sind die Faktoren selber viel zu unbestimmt und vage, pmu_023.002
als daß sich daraus eine notwendige Entwicklung ableiten ließe.
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So viel ist außer Zweifel, daß für das Zustandekommen einer Jndividualität pmu_023.004
stets innere und äußere Faktoren zusammenwirken müssen. Alle pmu_023.005
Bildungen entstehen durch das Zusammenwirken beider Arten, stets pmu_023.006
findet ein Annehmen oder Verwerfen der äußeren Faktoren durch innere pmu_023.007
statt, ebenso wie die äußeren wieder die inneren anregen und zur Aktion pmu_023.008
bringen. Wie groß aber im einzelnen die Beteiligung der betreffenden pmu_023.009
Faktoren gewesen ist, läßt sich nirgends ermessen; ebensowenig können pmu_023.010
wir der gewordenen Persönlichkeit ansehen, wieviel bei ihr auf Rechnung pmu_023.011
von Vererbung und wieviel auf Rechnung des Milieus zu setzen ist. pmu_023.012
Wir können z. B. nicht das Geringste darüber angeben, was aus Schiller pmu_023.013
geworden wäre, wenn er in einem andern Milieu groß geworden wäre, pmu_023.014
ob etwa seine leidenschaftliche Energie ein Produkt seines Lebens war pmu_023.015
oder ob dieses Leben nur so geworden ist, weil er eben so veranlagt war. pmu_023.016
Überall werden wir uns an die fertige Tatsache halten und dabei auf pmu_023.017
den naiven Glauben verzichten müssen, mit ein paar Faktoren diese Tatsachen pmu_023.018
„erklären“ zu können.
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Keineswegs ist auch viel damit erklärt, wenn man die „Rasse“ heranzieht. pmu_023.020
Der Rassenbegriff ist nur gewonnen durch eine Addition von Jndividuen. pmu_023.021
Es ist also weiter nichts als eine Analogie, aber keine Erklärung, pmu_023.022
wenn ich sage, einer hat diese Eigenschaft, weil er Slawe ist; denn pmu_023.023
ich sage damit nur aus, daß auch bei andern Leuten derselben Abstammung pmu_023.024
sich solche Eigenschaften finden, was doch wahrhaftig nicht erklärt, warum pmu_023.025
der einzelne dazu kommt. Außerdem ist es aus den schon oben berührten pmu_023.026
Gründen niemals möglich, zu sagen, wieviel der angeborenen Anlage, pmu_023.027
wieviel den äußeren Einflüssen zuzuschreiben ist. Man hat Beispiele in pmu_023.028
Fülle, aus denen sich Beweise für wie gegen jede dieser Stellungnahmen pmu_023.029
ableiten lassen. Jn Wirklichkeit liegt die Sache immer so, daß innere und pmu_023.030
äußere Umstände zusammenwirken; es ist jedoch nirgends nachzuweisen, pmu_023.031
welches von beiden und in welchem Maße es entscheidend war.
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Jmmerhin jedoch scheint es, daß die äußeren Umstände doch der wichtigere pmu_023.033
Faktor sind, wenigstens sind sie der sichtbarere, für den wir feste pmu_023.034
Handhaben besitzen. Denn es wird sich nachher bei der Betrachtung der pmu_023.035
dichterischen Jndividualitäten erweisen, daß in jeder Zeit gewisse Veranlagungen pmu_023.036
unbedingt dominieren, was beweist, daß Mode, Suggestion pmu_023.037
aller Art auch die innere Wesensart eines Dichters entscheidend beeinflussen pmu_023.038
können. Jndessen haben wir wiederum Fälle, wo sich eine Jndividualität
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