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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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Veränderungen willen hintangesetzt, so spreche ich von pmu_004.002
Lebenssteigerung.

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vorhanden gewesen sind, daß sie nebeneinander bestanden und auch oft pmu_004.005
sich befeindet haben. Man pflegt in der Regel die bloße Verbreiterung pmu_004.006
des Lebens als Naturalismus zu bezeichnen. Dieser gibt uns Darstellungen, pmu_004.007
die durchaus auf derselben Basis stehen, wie das gewöhnliche pmu_004.008
Leben des Tages. Diejenige Kunst dagegen, die auf Steigerung und Erhöhung pmu_004.009
des Lebens abzielt und daher den Stoff oft zu etwas ganz Neuem pmu_004.010
umschafft, wollen wir einstweilen als Jdealismus oder Stilkunst bezeichnen. pmu_004.011
Daneben freilich gibt es noch eine dritte Art von Kunst, die pmu_004.012
Romantik, die zwar einerseits nicht bloße Verbreiterung des Lebens sein pmu_004.013
möchte, die im Gegenteil das gewöhnliche Leben flieht, aber nur im Stoffe pmu_004.014
etwas Neues sucht und darum in räumliche und zeitliche Fernen flüchtet, pmu_004.015
ohne indessen das Wesen der Dinge so umzuformen, wie es die idealische pmu_004.016
Kunst tut. So ist die romantische oder lebensflüchtige Kunst pmu_004.017
ein Zwitterding, indem sie zwar das gewöhnliche Leben verneint, jedoch pmu_004.018
nur stofflich, nicht der Form nach ein Neues schafft.

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Jndem wir diese drei Arten der Poesie kennzeichnen, müssen wir freilich pmu_004.020
zugeben, daß sie nicht haarscharf zu trennen sind. Zuweilen hat ein pmu_004.021
Dichter nacheinander verschiedene Arten gepflegt. So fing Goethe ziemlich pmu_004.022
naturalistisch an, bildete aber durch bewußte Schulung an der hellenischen pmu_004.023
Kunst jenen Jdealismus aus, den wir in der Jphigenie lieben. Daneben pmu_004.024
stehen auch Werke, die stark romantisch sind. -- Ja, oft finden sich pmu_004.025
verschiedene jener Dichtungstendenzen nebeneinander in demselben Werk. pmu_004.026
So haben wir oft in derselben Dichtung Naturalismus und Romantik, pmu_004.027
auch ein Beweis, daß beide im Grunde nur inhaltlich verschieden sind; pmu_004.028
man denke an E. Th. Hoffmann, an Zola und andre, die in ihren Naturalismus pmu_004.029
kühnste Romantik mischen. -- Aber selbst wenn wir Übergangs- pmu_004.030
und Mischformen zugestehen, so werden wir doch im einzelnen Falle pmu_004.031
meist mit ziemlicher Sicherheit sagen können, welche Tendenz den Dichter pmu_004.032
beherrscht hat. Dabei liegt es uns als Psychologen nicht ob, eine dieser pmu_004.033
verschiedenen Tendenzen zu verdammen. Jede derselben hat sich zu allen pmu_004.034
Zeiten neben der andern behauptet und war nicht zu beseitigen trotz heftigster pmu_004.035
Kritik. Wo soviel Lebenskraft ist, da werden wir auch die Daseinsberechtigung pmu_004.036
nicht ableugnen dürfen. Jndessen wird sich, sobald wir die pmu_004.037
einzelnen Arten genauer unter die Sonde nehmen, doch ergeben, daß sie pmu_004.038
nicht so fundamental verschieden sind, daß es sich im Grunde nur um

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Veränderungen willen hintangesetzt, so spreche ich von pmu_004.002
Lebenssteigerung.

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Es ist nun leicht einzusehen, daß beide Tendenzen in der Kunst stets pmu_004.004
vorhanden gewesen sind, daß sie nebeneinander bestanden und auch oft pmu_004.005
sich befeindet haben. Man pflegt in der Regel die bloße Verbreiterung pmu_004.006
des Lebens als Naturalismus zu bezeichnen. Dieser gibt uns Darstellungen, pmu_004.007
die durchaus auf derselben Basis stehen, wie das gewöhnliche pmu_004.008
Leben des Tages. Diejenige Kunst dagegen, die auf Steigerung und Erhöhung pmu_004.009
des Lebens abzielt und daher den Stoff oft zu etwas ganz Neuem pmu_004.010
umschafft, wollen wir einstweilen als Jdealismus oder Stilkunst bezeichnen. pmu_004.011
Daneben freilich gibt es noch eine dritte Art von Kunst, die pmu_004.012
Romantik, die zwar einerseits nicht bloße Verbreiterung des Lebens sein pmu_004.013
möchte, die im Gegenteil das gewöhnliche Leben flieht, aber nur im Stoffe pmu_004.014
etwas Neues sucht und darum in räumliche und zeitliche Fernen flüchtet, pmu_004.015
ohne indessen das Wesen der Dinge so umzuformen, wie es die idealische pmu_004.016
Kunst tut. So ist die romantische oder lebensflüchtige Kunst pmu_004.017
ein Zwitterding, indem sie zwar das gewöhnliche Leben verneint, jedoch pmu_004.018
nur stofflich, nicht der Form nach ein Neues schafft.

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Jndem wir diese drei Arten der Poesie kennzeichnen, müssen wir freilich pmu_004.020
zugeben, daß sie nicht haarscharf zu trennen sind. Zuweilen hat ein pmu_004.021
Dichter nacheinander verschiedene Arten gepflegt. So fing Goethe ziemlich pmu_004.022
naturalistisch an, bildete aber durch bewußte Schulung an der hellenischen pmu_004.023
Kunst jenen Jdealismus aus, den wir in der Jphigenie lieben. Daneben pmu_004.024
stehen auch Werke, die stark romantisch sind. — Ja, oft finden sich pmu_004.025
verschiedene jener Dichtungstendenzen nebeneinander in demselben Werk. pmu_004.026
So haben wir oft in derselben Dichtung Naturalismus und Romantik, pmu_004.027
auch ein Beweis, daß beide im Grunde nur inhaltlich verschieden sind; pmu_004.028
man denke an E. Th. Hoffmann, an Zola und andre, die in ihren Naturalismus pmu_004.029
kühnste Romantik mischen. — Aber selbst wenn wir Übergangs- pmu_004.030
und Mischformen zugestehen, so werden wir doch im einzelnen Falle pmu_004.031
meist mit ziemlicher Sicherheit sagen können, welche Tendenz den Dichter pmu_004.032
beherrscht hat. Dabei liegt es uns als Psychologen nicht ob, eine dieser pmu_004.033
verschiedenen Tendenzen zu verdammen. Jede derselben hat sich zu allen pmu_004.034
Zeiten neben der andern behauptet und war nicht zu beseitigen trotz heftigster pmu_004.035
Kritik. Wo soviel Lebenskraft ist, da werden wir auch die Daseinsberechtigung pmu_004.036
nicht ableugnen dürfen. Jndessen wird sich, sobald wir die pmu_004.037
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[4/0014] pmu_004.001 Veränderungen willen hintangesetzt, so spreche ich von pmu_004.002 Lebenssteigerung. pmu_004.003 Es ist nun leicht einzusehen, daß beide Tendenzen in der Kunst stets pmu_004.004 vorhanden gewesen sind, daß sie nebeneinander bestanden und auch oft pmu_004.005 sich befeindet haben. Man pflegt in der Regel die bloße Verbreiterung pmu_004.006 des Lebens als Naturalismus zu bezeichnen. Dieser gibt uns Darstellungen, pmu_004.007 die durchaus auf derselben Basis stehen, wie das gewöhnliche pmu_004.008 Leben des Tages. Diejenige Kunst dagegen, die auf Steigerung und Erhöhung pmu_004.009 des Lebens abzielt und daher den Stoff oft zu etwas ganz Neuem pmu_004.010 umschafft, wollen wir einstweilen als Jdealismus oder Stilkunst bezeichnen. pmu_004.011 Daneben freilich gibt es noch eine dritte Art von Kunst, die pmu_004.012 Romantik, die zwar einerseits nicht bloße Verbreiterung des Lebens sein pmu_004.013 möchte, die im Gegenteil das gewöhnliche Leben flieht, aber nur im Stoffe pmu_004.014 etwas Neues sucht und darum in räumliche und zeitliche Fernen flüchtet, pmu_004.015 ohne indessen das Wesen der Dinge so umzuformen, wie es die idealische pmu_004.016 Kunst tut. So ist die romantische oder lebensflüchtige Kunst pmu_004.017 ein Zwitterding, indem sie zwar das gewöhnliche Leben verneint, jedoch pmu_004.018 nur stofflich, nicht der Form nach ein Neues schafft. pmu_004.019 Jndem wir diese drei Arten der Poesie kennzeichnen, müssen wir freilich pmu_004.020 zugeben, daß sie nicht haarscharf zu trennen sind. Zuweilen hat ein pmu_004.021 Dichter nacheinander verschiedene Arten gepflegt. So fing Goethe ziemlich pmu_004.022 naturalistisch an, bildete aber durch bewußte Schulung an der hellenischen pmu_004.023 Kunst jenen Jdealismus aus, den wir in der Jphigenie lieben. Daneben pmu_004.024 stehen auch Werke, die stark romantisch sind. — Ja, oft finden sich pmu_004.025 verschiedene jener Dichtungstendenzen nebeneinander in demselben Werk. pmu_004.026 So haben wir oft in derselben Dichtung Naturalismus und Romantik, pmu_004.027 auch ein Beweis, daß beide im Grunde nur inhaltlich verschieden sind; pmu_004.028 man denke an E. Th. Hoffmann, an Zola und andre, die in ihren Naturalismus pmu_004.029 kühnste Romantik mischen. — Aber selbst wenn wir Übergangs- pmu_004.030 und Mischformen zugestehen, so werden wir doch im einzelnen Falle pmu_004.031 meist mit ziemlicher Sicherheit sagen können, welche Tendenz den Dichter pmu_004.032 beherrscht hat. Dabei liegt es uns als Psychologen nicht ob, eine dieser pmu_004.033 verschiedenen Tendenzen zu verdammen. Jede derselben hat sich zu allen pmu_004.034 Zeiten neben der andern behauptet und war nicht zu beseitigen trotz heftigster pmu_004.035 Kritik. Wo soviel Lebenskraft ist, da werden wir auch die Daseinsberechtigung pmu_004.036 nicht ableugnen dürfen. Jndessen wird sich, sobald wir die pmu_004.037 einzelnen Arten genauer unter die Sonde nehmen, doch ergeben, daß sie pmu_004.038 nicht so fundamental verschieden sind, daß es sich im Grunde nur um

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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/14>, abgerufen am 27.11.2024.