Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_003.001 3. Auf Bereicherung des Lebens also kommt es der Dichtung an. pmu_003.021 pmu_003.001 3. Auf Bereicherung des Lebens also kommt es der Dichtung an. pmu_003.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0013" n="3"/><lb n="pmu_003.001"/> Erlebnissen, die durch das akustisch-motorische Element ausgelöst <lb n="pmu_003.002"/> werden. Jn allen guten Kunstwerken wird dieser Dualismus nicht verspürt, <lb n="pmu_003.003"/> weil sich hier die beiden Seiten der Sprache zu völlig einheitlicher <lb n="pmu_003.004"/> Wirkung ergänzen. Jndessen können wir darum die Dichtkunst doch nicht <lb n="pmu_003.005"/> in demselben Sinne als „Sprachkunst“ bezeichnen, wie wir die Musik <lb n="pmu_003.006"/> Tonkunst nennen. Es geht auch nicht an, daß wir jenen Dualismus von <lb n="pmu_003.007"/> Sprache und den durch sie ausgelösten seelischen Erlebnissen auf die Zweiheit: <lb n="pmu_003.008"/> Form und Jnhalt zurückführen. Wir werden unten zeigen, daß die <lb n="pmu_003.009"/> poetische Formgebung vor allem auch den ganzen Umkreis der „Bedeutungen“ <lb n="pmu_003.010"/> umfaßt. Wir könnten also die Stellung der Dichtung in der Gesamtheit <lb n="pmu_003.011"/> des Lebens etwa so definieren, daß wir sagen: <hi rendition="#g">Die Dichtung <lb n="pmu_003.012"/> erzeugt in uns vermittelst der Sprache seelische Erlebnisse, <lb n="pmu_003.013"/> die unser praktisches Leben ergänzen und bereichern.</hi> Dabei ist <lb n="pmu_003.014"/> zu bemerken, daß diese dichterischen Erlebnisse noch weniger als in andern <lb n="pmu_003.015"/> Künsten, wenn auch überwiegend, so doch nicht <hi rendition="#g">rein</hi> ästhetisch zu sein <lb n="pmu_003.016"/> pflegen, sondern da ja der Rohstoff dieser poetischen Gestaltungen dem <lb n="pmu_003.017"/> gewöhnlichen, d. h. überwiegend praktischen Leben entnommen ist, so <lb n="pmu_003.018"/> kommen außerästhetische Momente, vor allem ethische, religiöse usw., <lb n="pmu_003.019"/> ebenfalls stark in Betracht.</p> <lb n="pmu_003.020"/> </div> <div n="3"> <p> 3. Auf Bereicherung des Lebens also kommt es der Dichtung an. <lb n="pmu_003.021"/> Dies ist der gemeinsame Sinn, der in allem Dichten liegt, soweit es für <lb n="pmu_003.022"/> andre bestimmt ist. Eine Divergenz tritt erst ein, sobald man nach der <lb n="pmu_003.023"/> <hi rendition="#g">Art</hi> dieser Bereicherung fragt. Denn die zu vermittelnden Erlebnisse <lb n="pmu_003.024"/> sind nicht wie in der Musik etwas ganz Apartes, sondern sind ihrem Jnhalt <lb n="pmu_003.025"/> nach dem gewöhnlichen Leben entnommen. Es ergibt sich die Frage, <lb n="pmu_003.026"/> um die oft und laut gestritten worden ist, ob diese durch die Dichtkunst <lb n="pmu_003.027"/> zu erbringende Bereicherung nur eine <hi rendition="#g">quantitative Verbreiterung</hi> <lb n="pmu_003.028"/> und Vermehrung des von allen gelebten Lebens sein solle oder eine bestimmte <lb n="pmu_003.029"/> <hi rendition="#g">qualitative Änderung, Erhöhung, Steigerung</hi> usw. zu <lb n="pmu_003.030"/> sein habe. Diese Frage ist in verschiedenen Fassungen immer wiedergekehrt. <lb n="pmu_003.031"/> Bald verlangte man möglichste Natürlichkeit, exakte Nachahmung, <lb n="pmu_003.032"/> bald schätzte man die Kunst gerade um gewisser Veränderungen willen, <lb n="pmu_003.033"/> die an dem Rohstoff der gewählten Lebensinhalte vorgenommen wurden. <lb n="pmu_003.034"/> Jch will diejenige Tendenz, die auf möglichst getreue Darstellung des Lebens <lb n="pmu_003.035"/> ausgeht und in der Dichtung also neben das praktische Leben ein <lb n="pmu_003.036"/> qualitativ gleiches künstliches Leben rückt, die <hi rendition="#g">Lebensverbreiterung</hi> <lb n="pmu_003.037"/> nennen. Geht indessen die Dichtung auf eine qualitative Umarbeitung <lb n="pmu_003.038"/> des Rohstoffes, wird die imitatorische Treue um gewisser, später zu besprechender </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [3/0013]
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Erlebnissen, die durch das akustisch-motorische Element ausgelöst pmu_003.002
werden. Jn allen guten Kunstwerken wird dieser Dualismus nicht verspürt, pmu_003.003
weil sich hier die beiden Seiten der Sprache zu völlig einheitlicher pmu_003.004
Wirkung ergänzen. Jndessen können wir darum die Dichtkunst doch nicht pmu_003.005
in demselben Sinne als „Sprachkunst“ bezeichnen, wie wir die Musik pmu_003.006
Tonkunst nennen. Es geht auch nicht an, daß wir jenen Dualismus von pmu_003.007
Sprache und den durch sie ausgelösten seelischen Erlebnissen auf die Zweiheit: pmu_003.008
Form und Jnhalt zurückführen. Wir werden unten zeigen, daß die pmu_003.009
poetische Formgebung vor allem auch den ganzen Umkreis der „Bedeutungen“ pmu_003.010
umfaßt. Wir könnten also die Stellung der Dichtung in der Gesamtheit pmu_003.011
des Lebens etwa so definieren, daß wir sagen: Die Dichtung pmu_003.012
erzeugt in uns vermittelst der Sprache seelische Erlebnisse, pmu_003.013
die unser praktisches Leben ergänzen und bereichern. Dabei ist pmu_003.014
zu bemerken, daß diese dichterischen Erlebnisse noch weniger als in andern pmu_003.015
Künsten, wenn auch überwiegend, so doch nicht rein ästhetisch zu sein pmu_003.016
pflegen, sondern da ja der Rohstoff dieser poetischen Gestaltungen dem pmu_003.017
gewöhnlichen, d. h. überwiegend praktischen Leben entnommen ist, so pmu_003.018
kommen außerästhetische Momente, vor allem ethische, religiöse usw., pmu_003.019
ebenfalls stark in Betracht.
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3. Auf Bereicherung des Lebens also kommt es der Dichtung an. pmu_003.021
Dies ist der gemeinsame Sinn, der in allem Dichten liegt, soweit es für pmu_003.022
andre bestimmt ist. Eine Divergenz tritt erst ein, sobald man nach der pmu_003.023
Art dieser Bereicherung fragt. Denn die zu vermittelnden Erlebnisse pmu_003.024
sind nicht wie in der Musik etwas ganz Apartes, sondern sind ihrem Jnhalt pmu_003.025
nach dem gewöhnlichen Leben entnommen. Es ergibt sich die Frage, pmu_003.026
um die oft und laut gestritten worden ist, ob diese durch die Dichtkunst pmu_003.027
zu erbringende Bereicherung nur eine quantitative Verbreiterung pmu_003.028
und Vermehrung des von allen gelebten Lebens sein solle oder eine bestimmte pmu_003.029
qualitative Änderung, Erhöhung, Steigerung usw. zu pmu_003.030
sein habe. Diese Frage ist in verschiedenen Fassungen immer wiedergekehrt. pmu_003.031
Bald verlangte man möglichste Natürlichkeit, exakte Nachahmung, pmu_003.032
bald schätzte man die Kunst gerade um gewisser Veränderungen willen, pmu_003.033
die an dem Rohstoff der gewählten Lebensinhalte vorgenommen wurden. pmu_003.034
Jch will diejenige Tendenz, die auf möglichst getreue Darstellung des Lebens pmu_003.035
ausgeht und in der Dichtung also neben das praktische Leben ein pmu_003.036
qualitativ gleiches künstliches Leben rückt, die Lebensverbreiterung pmu_003.037
nennen. Geht indessen die Dichtung auf eine qualitative Umarbeitung pmu_003.038
des Rohstoffes, wird die imitatorische Treue um gewisser, später zu besprechender
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