Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_090.001 Dabei ist noch zu bemerken, daß es auch in der Poesie eine Anschaulichkeit pmu_090.002 "Je mehr der Tag mit immer schwächern pmu_090.011 pmu_090.014Gebärden sich gen Abend neigt, pmu_090.012 je mehr bist du, mein Gott. Es steigt pmu_090.013 dein Reich wie Rauch aus allen Dächern." -- Hier wird der erste Begriff "Gott" in keiner Weise durch das anschauliche pmu_090.015 Zusammenfassend können wir sagen, daß die Wirkung aller hier zu behandelnden pmu_090.021 7. Jch beginne zunächst mit denjenigen Stilformen, die rein sprachlich pmu_090.024 pmu_090.001 Dabei ist noch zu bemerken, daß es auch in der Poesie eine Anschaulichkeit pmu_090.002 „Je mehr der Tag mit immer schwächern pmu_090.011 pmu_090.014Gebärden sich gen Abend neigt, pmu_090.012 je mehr bist du, mein Gott. Es steigt pmu_090.013 dein Reich wie Rauch aus allen Dächern.“ — Hier wird der erste Begriff „Gott“ in keiner Weise durch das anschauliche pmu_090.015 Zusammenfassend können wir sagen, daß die Wirkung aller hier zu behandelnden pmu_090.021 7. Jch beginne zunächst mit denjenigen Stilformen, die rein sprachlich pmu_090.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0100" n="90"/> <lb n="pmu_090.001"/> <p> Dabei ist noch zu bemerken, daß es auch in der Poesie eine Anschaulichkeit <lb n="pmu_090.002"/> gibt, die Selbstzweck ist, d. h. die bloß der <hi rendition="#g">sachlichen Klarheit</hi> dienen <lb n="pmu_090.003"/> soll. Wenn z. B. der Bart eines Mannes an das Roßhaar erinnert, <lb n="pmu_090.004"/> „mit dem man die <hi rendition="#aq">Meubles</hi> stopft“, so ist das, abgesehen von einer sekundären <lb n="pmu_090.005"/> Gefühlsnuance, eine <hi rendition="#g">sachliche</hi> Anschaulichkeit, die durch jenes <lb n="pmu_090.006"/> Gleichnis im Leser erweckt werden soll. Daneben aber gibt es auch Fälle, <lb n="pmu_090.007"/> wo es sich um keinerlei sachliche Klärung oder Verdeutlichung handelt, <lb n="pmu_090.008"/> wo ganz vage <hi rendition="#g">Stimmungsanalogien</hi> das <hi rendition="#aq">Tertium comparationis</hi> <lb n="pmu_090.009"/> bilden. Jch nehme z. B. den folgenden Vers von R. M. Rilke.</p> <lb n="pmu_090.010"/> <lg> <l>„Je mehr der Tag mit immer schwächern <lb n="pmu_090.011"/> Gebärden sich gen Abend neigt, <lb n="pmu_090.012"/> je mehr bist du, mein Gott. Es steigt <lb n="pmu_090.013"/> dein Reich wie Rauch aus allen Dächern.“ —</l> </lg> <lb n="pmu_090.014"/> <p>Hier wird der erste Begriff „Gott“ in keiner Weise durch das anschauliche <lb n="pmu_090.015"/> Bild vom Rauch sachlich verdeutlicht, es wird nur die allgemeine Stimmung <lb n="pmu_090.016"/> des Friedlichen, Feierlichen verstärkt durch das anschauliche Gleichnis, <lb n="pmu_090.017"/> das dieselbe Stimmung hat. Jch unterscheide darum von der <hi rendition="#g">sachlichen</hi> <lb n="pmu_090.018"/> Anschaulichkeit, die auch in der nichtpoetischen Sprache überall vorkommt, <lb n="pmu_090.019"/> eine <hi rendition="#g">poetische,</hi> die nur auf Stimmungs- und Gefühlswirkung ausgeht.</p> <lb n="pmu_090.020"/> <p> Zusammenfassend können wir sagen, daß die Wirkung aller hier zu behandelnden <lb n="pmu_090.021"/> Stilformen in erster Linie auf Gefühlswirkung und nur sekundär <lb n="pmu_090.022"/> zuweilen auf Anschaulichkeit ausgeht.</p> <lb n="pmu_090.023"/> </div> <div n="3"> <p> 7. Jch beginne zunächst mit denjenigen Stilformen, die rein sprachlich <lb n="pmu_090.024"/> sind, wo kaum eine besondere Apperzeption zugrunde liegt. Das, was <lb n="pmu_090.025"/> man poetische Sprache nennt, also eine Sprache, der es vor allem auf <lb n="pmu_090.026"/> die Erweckung von Gefühlen und Stimmungen ankommt, wirkt zunächst <lb n="pmu_090.027"/> durch eine besondere <hi rendition="#g">Wortwahl.</hi> Diese kann rein negativ sich darin <lb n="pmu_090.028"/> äußern, daß alle bloß an den Verstand appellierenden Ausdrücke wie <lb n="pmu_090.029"/> wissenschaftliche Fachausdrücke usw. streng ausgeschieden sind. Auch hier <lb n="pmu_090.030"/> bringen die Zeiten Wandel. Die Sprache der Epigonendichter vom Stamme <lb n="pmu_090.031"/> Geibels z. B. hatte eine Menge Wörter vermieden, die durch Liliencron <lb n="pmu_090.032"/> und andre volles Bürgerrecht in der Poesie erhielten. Dort war es <lb n="pmu_090.033"/> meist der zu „niedrige“ Gefühlston, der die Worte in Verruf gebracht hatte, <lb n="pmu_090.034"/> was wegfiel, sobald die Poesie von ihrem Kothurn herabstieg. Jndessen <lb n="pmu_090.035"/> braucht <hi rendition="#g">sich</hi> die „Gewähltheit“ der Worte nicht bloß nach der Seite <lb n="pmu_090.036"/> des Seltenen, Erhabenen, Feierlichen hin zu offenbaren. Man kann auch <lb n="pmu_090.037"/> nach dem Prinzip der größten Schlichtheit auswählen. So wissen wir, <lb n="pmu_090.038"/> wie mühsam Heine an seinen Versen arbeitete, nur um das allernatürlichste </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [90/0100]
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Dabei ist noch zu bemerken, daß es auch in der Poesie eine Anschaulichkeit pmu_090.002
gibt, die Selbstzweck ist, d. h. die bloß der sachlichen Klarheit dienen pmu_090.003
soll. Wenn z. B. der Bart eines Mannes an das Roßhaar erinnert, pmu_090.004
„mit dem man die Meubles stopft“, so ist das, abgesehen von einer sekundären pmu_090.005
Gefühlsnuance, eine sachliche Anschaulichkeit, die durch jenes pmu_090.006
Gleichnis im Leser erweckt werden soll. Daneben aber gibt es auch Fälle, pmu_090.007
wo es sich um keinerlei sachliche Klärung oder Verdeutlichung handelt, pmu_090.008
wo ganz vage Stimmungsanalogien das Tertium comparationis pmu_090.009
bilden. Jch nehme z. B. den folgenden Vers von R. M. Rilke.
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„Je mehr der Tag mit immer schwächern pmu_090.011
Gebärden sich gen Abend neigt, pmu_090.012
je mehr bist du, mein Gott. Es steigt pmu_090.013
dein Reich wie Rauch aus allen Dächern.“ —
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Hier wird der erste Begriff „Gott“ in keiner Weise durch das anschauliche pmu_090.015
Bild vom Rauch sachlich verdeutlicht, es wird nur die allgemeine Stimmung pmu_090.016
des Friedlichen, Feierlichen verstärkt durch das anschauliche Gleichnis, pmu_090.017
das dieselbe Stimmung hat. Jch unterscheide darum von der sachlichen pmu_090.018
Anschaulichkeit, die auch in der nichtpoetischen Sprache überall vorkommt, pmu_090.019
eine poetische, die nur auf Stimmungs- und Gefühlswirkung ausgeht.
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Zusammenfassend können wir sagen, daß die Wirkung aller hier zu behandelnden pmu_090.021
Stilformen in erster Linie auf Gefühlswirkung und nur sekundär pmu_090.022
zuweilen auf Anschaulichkeit ausgeht.
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7. Jch beginne zunächst mit denjenigen Stilformen, die rein sprachlich pmu_090.024
sind, wo kaum eine besondere Apperzeption zugrunde liegt. Das, was pmu_090.025
man poetische Sprache nennt, also eine Sprache, der es vor allem auf pmu_090.026
die Erweckung von Gefühlen und Stimmungen ankommt, wirkt zunächst pmu_090.027
durch eine besondere Wortwahl. Diese kann rein negativ sich darin pmu_090.028
äußern, daß alle bloß an den Verstand appellierenden Ausdrücke wie pmu_090.029
wissenschaftliche Fachausdrücke usw. streng ausgeschieden sind. Auch hier pmu_090.030
bringen die Zeiten Wandel. Die Sprache der Epigonendichter vom Stamme pmu_090.031
Geibels z. B. hatte eine Menge Wörter vermieden, die durch Liliencron pmu_090.032
und andre volles Bürgerrecht in der Poesie erhielten. Dort war es pmu_090.033
meist der zu „niedrige“ Gefühlston, der die Worte in Verruf gebracht hatte, pmu_090.034
was wegfiel, sobald die Poesie von ihrem Kothurn herabstieg. Jndessen pmu_090.035
braucht sich die „Gewähltheit“ der Worte nicht bloß nach der Seite pmu_090.036
des Seltenen, Erhabenen, Feierlichen hin zu offenbaren. Man kann auch pmu_090.037
nach dem Prinzip der größten Schlichtheit auswählen. So wissen wir, pmu_090.038
wie mühsam Heine an seinen Versen arbeitete, nur um das allernatürlichste
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