405. Die Griechische Kunst gestaltet, weit über das1 in Cultus und Poesie Gegebne, nach einer ihr eigenthüm- lichen Befugniß (§. 325.) bis in die spätste Zeit (§. 214, 2.) Länder, Städte, Völker als menschliche In- dividuen. Wenn dabei auch die Vorstellung einer reichbekleideten Frau mit einer Thurmkrone, einem Füll- horn und dergleichen Attributen des Reichthums die ge- wöhnliche ist: so findet doch auch bei mythischer Begrün-2 dung oder besonders hervorstechendem Charakter der dar- gestellten Collectivperson eine eigenthümlichere Darstellung statt; wie die Pallas-ähnliche nur minder jungfräuliche der Roma. Gruppen, worin eine Stadt die andre,3 eine Stadt einen König, oder Arete und ähnliche allego- rische Figuren die Stadt kränzen, waren im Alterthum häufig. Auch Demen, natürlich männlich, Se-4 nate und dergleichen Versammlungen wurden bildlich vorgestellt. Besonders war viel Anlaß, die Gottheiten5 der Agonen-Orte, oder auch der Agonen-Versammlun- gen selbst, als Frauen mit Palmen und Kränzen darzu- stellen; gewiß sind auf diese Weise zahllose kränzende oder Tänien umlegende Figuren auf Vasen zu erklären. Die Römischen Genii locorum erscheinen als Schlan-6 gen, welche hingelegte Früchte verzehren, während der Genius sonst -- eine rein Italische Vorstellung, die in der neuern Kunstsprache mißbräuchlich auf Griechische Kunstaufgaben übertragen worden ist -- meistentheils als Fi- gur in der Toga mit verhülltem Haupte, Füllhorn und Patere in den Händen, gedacht und abgebildet wird. Die Laren des Römischen Cultus erscheinen als Opfer-7 diener; die Penaten als sitzende, den Dioskuren ähn- liche Jünglinge, mit Helm und Speer, und dem haus- bewachendem Hunde neben sich. Selbst Plätze, wie8 der Campus Martius, Straßen, wie die via Appia, werden in der Alles personificirenden Kunst zu Menschen- figuren.
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
12. Land, Stadt und Haus.
405. Die Griechiſche Kunſt geſtaltet, weit uͤber das1 in Cultus und Poeſie Gegebne, nach einer ihr eigenthuͤm- lichen Befugniß (§. 325.) bis in die ſpaͤtſte Zeit (§. 214, 2.) Laͤnder, Staͤdte, Voͤlker als menſchliche In- dividuen. Wenn dabei auch die Vorſtellung einer reichbekleideten Frau mit einer Thurmkrone, einem Fuͤll- horn und dergleichen Attributen des Reichthums die ge- woͤhnliche iſt: ſo findet doch auch bei mythiſcher Begruͤn-2 dung oder beſonders hervorſtechendem Charakter der dar- geſtellten Collectivperſon eine eigenthuͤmlichere Darſtellung ſtatt; wie die Pallas-aͤhnliche nur minder jungfraͤuliche der Roma. Gruppen, worin eine Stadt die andre,3 eine Stadt einen Koͤnig, oder Arete und aͤhnliche allego- riſche Figuren die Stadt kraͤnzen, waren im Alterthum haͤufig. Auch Demen, natuͤrlich maͤnnlich, Se-4 nate und dergleichen Verſammlungen wurden bildlich vorgeſtellt. Beſonders war viel Anlaß, die Gottheiten5 der Agonen-Orte, oder auch der Agonen-Verſammlun- gen ſelbſt, als Frauen mit Palmen und Kraͤnzen darzu- ſtellen; gewiß ſind auf dieſe Weiſe zahlloſe kraͤnzende oder Taͤnien umlegende Figuren auf Vaſen zu erklaͤren. Die Roͤmiſchen Genii locorum erſcheinen als Schlan-6 gen, welche hingelegte Fruͤchte verzehren, waͤhrend der Genius ſonſt — eine rein Italiſche Vorſtellung, die in der neuern Kunſtſprache mißbraͤuchlich auf Griechiſche Kunſtaufgaben uͤbertragen worden iſt — meiſtentheils als Fi- gur in der Toga mit verhuͤlltem Haupte, Fuͤllhorn und Patere in den Haͤnden, gedacht und abgebildet wird. Die Laren des Roͤmiſchen Cultus erſcheinen als Opfer-7 diener; die Penaten als ſitzende, den Dioskuren aͤhn- liche Juͤnglinge, mit Helm und Speer, und dem haus- bewachendem Hunde neben ſich. Selbſt Plaͤtze, wie8 der Campus Martius, Straßen, wie die via Appia, werden in der Alles perſonificirenden Kunſt zu Menſchen- figuren.
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II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
12. Land, Stadt und Haus.
405. Die Griechiſche Kunſt geſtaltet, weit uͤber das
in Cultus und Poeſie Gegebne, nach einer ihr eigenthuͤm-
lichen Befugniß (§. 325.) bis in die ſpaͤtſte Zeit (§. 214,
2.) Laͤnder, Staͤdte, Voͤlker als menſchliche In-
dividuen. Wenn dabei auch die Vorſtellung einer
reichbekleideten Frau mit einer Thurmkrone, einem Fuͤll-
horn und dergleichen Attributen des Reichthums die ge-
woͤhnliche iſt: ſo findet doch auch bei mythiſcher Begruͤn-
dung oder beſonders hervorſtechendem Charakter der dar-
geſtellten Collectivperſon eine eigenthuͤmlichere Darſtellung
ſtatt; wie die Pallas-aͤhnliche nur minder jungfraͤuliche
der Roma. Gruppen, worin eine Stadt die andre,
eine Stadt einen Koͤnig, oder Arete und aͤhnliche allego-
riſche Figuren die Stadt kraͤnzen, waren im Alterthum
haͤufig. Auch Demen, natuͤrlich maͤnnlich, Se-
nate und dergleichen Verſammlungen wurden bildlich
vorgeſtellt. Beſonders war viel Anlaß, die Gottheiten
der Agonen-Orte, oder auch der Agonen-Verſammlun-
gen ſelbſt, als Frauen mit Palmen und Kraͤnzen darzu-
ſtellen; gewiß ſind auf dieſe Weiſe zahlloſe kraͤnzende
oder Taͤnien umlegende Figuren auf Vaſen zu erklaͤren.
Die Roͤmiſchen Genii locorum erſcheinen als Schlan-
gen, welche hingelegte Fruͤchte verzehren, waͤhrend der
Genius ſonſt — eine rein Italiſche Vorſtellung, die
in der neuern Kunſtſprache mißbraͤuchlich auf Griechiſche
Kunſtaufgaben uͤbertragen worden iſt — meiſtentheils als Fi-
gur in der Toga mit verhuͤlltem Haupte, Fuͤllhorn und
Patere in den Haͤnden, gedacht und abgebildet wird.
Die Laren des Roͤmiſchen Cultus erſcheinen als Opfer-
diener; die Penaten als ſitzende, den Dioskuren aͤhn-
liche Juͤnglinge, mit Helm und Speer, und dem haus-
bewachendem Hunde neben ſich. Selbſt Plaͤtze, wie
der Campus Martius, Straßen, wie die via Appia,
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/573>, abgerufen am 22.11.2024.
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