349. Zeus war, wie alle Götter des Griechischen1 Volks, von Anfang an auch Naturgott und vorzugs- weis Naturgott. Im warmen Frühlingsregen feiert er in Argos die heilige Hochzeit mit der Hera; die nährende Eiche und die fruchtbare Taube bezeichneten ihn in Dodona als Seegensgott; und in Kreta er- zählte man seine Jugendgeschichte ziemlich so wie an andern Orten die des Bakchos. Alte symbolische Vor-2 stellungen deuteten ihn als einen Gott dreier Reiche, des himmlischen, irdischen und unterirdischen, an. Seine Kunstform erhielt indeß Zeus nicht als Naturgott, son- dern in ethischer Ausbildung als der eben so huld- wie machtvolle Herrscher der Welt und Vater der Götter und Menschen. Diese Vereinigung der Eigenschaften hatte,3 nach manchen weniger tiefgefaßten Vorstellungen der äl- tern Kunst, schon Phidias zur innigsten Verschmelzung4 erhoben, und gewiß war er es auch, der die äußeren Züge aufstellte, welche alle nachfolgenden Künstler, nach dem Maaße ihres Kunstvermögens, wiederzugeben suchten. Dazu gehörte der sich von dem Mittel der Stirn empor-5 bäumende, dann mähnenartig zu beiden Seiten her- abfallende Haarwurf (§. 330, 4), die oben klare und helle, nach unten aber sich mächtig vorwölbende Stirn, die zwar stark zurückliegenden aber weit geöffneten und gerundeten Augen, die feinen Züge um Oberlippe und Wangen, der reiche, volle, in mächtigen Locken grade herabwallende Bart, die edel und breitgeformte offne Brust, so wie eine kräftige aber nicht übermäßig toröse Musculatur des ganzen Körpers. Von diesem Charakter,6 welcher den meisten und besten Zeus-Bildern eingeprägt ist, weicht auf der einen Seite eine mehr jugendliche und milde Bildung ab, mit weniger Bart und männli-
II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
A. Die Olympiſchen Zwoͤlfgoͤtter.
1. Zeus.
349. Zeus war, wie alle Goͤtter des Griechiſchen1 Volks, von Anfang an auch Naturgott und vorzugs- weis Naturgott. Im warmen Fruͤhlingsregen feiert er in Argos die heilige Hochzeit mit der Hera; die naͤhrende Eiche und die fruchtbare Taube bezeichneten ihn in Dodona als Seegensgott; und in Kreta er- zaͤhlte man ſeine Jugendgeſchichte ziemlich ſo wie an andern Orten die des Bakchos. Alte ſymboliſche Vor-2 ſtellungen deuteten ihn als einen Gott dreier Reiche, des himmliſchen, irdiſchen und unterirdiſchen, an. Seine Kunſtform erhielt indeß Zeus nicht als Naturgott, ſon- dern in ethiſcher Ausbildung als der eben ſo huld- wie machtvolle Herrſcher der Welt und Vater der Goͤtter und Menſchen. Dieſe Vereinigung der Eigenſchaften hatte,3 nach manchen weniger tiefgefaßten Vorſtellungen der aͤl- tern Kunſt, ſchon Phidias zur innigſten Verſchmelzung4 erhoben, und gewiß war er es auch, der die aͤußeren Zuͤge aufſtellte, welche alle nachfolgenden Kuͤnſtler, nach dem Maaße ihres Kunſtvermoͤgens, wiederzugeben ſuchten. Dazu gehoͤrte der ſich von dem Mittel der Stirn empor-5 baͤumende, dann maͤhnenartig zu beiden Seiten her- abfallende Haarwurf (§. 330, 4), die oben klare und helle, nach unten aber ſich maͤchtig vorwoͤlbende Stirn, die zwar ſtark zuruͤckliegenden aber weit geoͤffneten und gerundeten Augen, die feinen Zuͤge um Oberlippe und Wangen, der reiche, volle, in maͤchtigen Locken grade herabwallende Bart, die edel und breitgeformte offne Bruſt, ſo wie eine kraͤftige aber nicht uͤbermaͤßig toroͤſe Musculatur des ganzen Koͤrpers. Von dieſem Charakter,6 welcher den meiſten und beſten Zeus-Bildern eingepraͤgt iſt, weicht auf der einen Seite eine mehr jugendliche und milde Bildung ab, mit weniger Bart und maͤnnli-
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II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
A. Die Olympiſchen Zwoͤlfgoͤtter.
1. Zeus.
349. Zeus war, wie alle Goͤtter des Griechiſchen
Volks, von Anfang an auch Naturgott und vorzugs-
weis Naturgott. Im warmen Fruͤhlingsregen feiert
er in Argos die heilige Hochzeit mit der Hera; die
naͤhrende Eiche und die fruchtbare Taube bezeichneten
ihn in Dodona als Seegensgott; und in Kreta er-
zaͤhlte man ſeine Jugendgeſchichte ziemlich ſo wie an
andern Orten die des Bakchos. Alte ſymboliſche Vor-
ſtellungen deuteten ihn als einen Gott dreier Reiche, des
himmliſchen, irdiſchen und unterirdiſchen, an. Seine
Kunſtform erhielt indeß Zeus nicht als Naturgott, ſon-
dern in ethiſcher Ausbildung als der eben ſo huld- wie
machtvolle Herrſcher der Welt und Vater der Goͤtter und
Menſchen. Dieſe Vereinigung der Eigenſchaften hatte,
nach manchen weniger tiefgefaßten Vorſtellungen der aͤl-
tern Kunſt, ſchon Phidias zur innigſten Verſchmelzung
erhoben, und gewiß war er es auch, der die aͤußeren
Zuͤge aufſtellte, welche alle nachfolgenden Kuͤnſtler, nach
dem Maaße ihres Kunſtvermoͤgens, wiederzugeben ſuchten.
Dazu gehoͤrte der ſich von dem Mittel der Stirn empor-
baͤumende, dann maͤhnenartig zu beiden Seiten her-
abfallende Haarwurf (§. 330, 4), die oben klare und
helle, nach unten aber ſich maͤchtig vorwoͤlbende Stirn,
die zwar ſtark zuruͤckliegenden aber weit geoͤffneten und
gerundeten Augen, die feinen Zuͤge um Oberlippe und
Wangen, der reiche, volle, in maͤchtigen Locken grade
herabwallende Bart, die edel und breitgeformte offne
Bruſt, ſo wie eine kraͤftige aber nicht uͤbermaͤßig toroͤſe
Musculatur des ganzen Koͤrpers. Von dieſem Charakter,
welcher den meiſten und beſten Zeus-Bildern eingepraͤgt
iſt, weicht auf der einen Seite eine mehr jugendliche
und milde Bildung ab, mit weniger Bart und maͤnnli-
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/463>, abgerufen am 23.11.2024.
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