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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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II. Bildende Kunst. Gegenstände.
der plastischen Kunst stattfand. Als nun ihrerseits die5
Plastik dahin gediehen war, die äußern Formen des Le-
bens in ihrer Wahrheit und Bedeutungsfülle zu fassen,
kam es nur darauf an, jene schon individualisirten Vor-
stellungen in ihnen auszuprägen. Wenn auch dies nie
ohne eine ganz eigenthümliche Auffassung, ohne Begeiste-
rung und einen Akt des Genie's von Seiten der Künst-
ler geschehen konnte: so war doch die allgemeine Vor-
stellung der Nation von dem Gotte da, um als Prüf-
stein der Richtigkeit der Darstellung zu dienen. Fühlte sich6
nun die feste und bestimmte Vorstellung von dem Gotte,
in Verbindung mit dem feinen Sinne der Griechen für
den Charakter der Formen, völlig befriedigt: so erwuch-
sen Normalbilder, an welche sich die darauf folgen-
den Künstler, mit jenem Sinne der Hellenischen Nation,
der von der orientalischen Starrheit wie von moderner
Eigensucht gleich entfernt war, mit lebendiger Freiheit
anschlossen; es entstanden Bildungen der Götter und He-
roen, die nicht weniger innre Wahrheit und Festigkeit
hatten, als wenn die Götter den Künstlern selbst gesessen
hätten. Alles dies ist nur einmal so in der Welt gewe-7
sen, weil nur in Griechenland die Kunst in dem Maaße
Nationalthätigkeit, nur die Griechische Nation im Gan-
zen eine große Künstlerin war.

5. Wie die Götterideale sich durch treues Festhalten an der
Volksvorstellung allmählig festgesetzt, führt Dion Chrysost. xii
p.
210. nicht übel aus.

6. So sind natürlich auch die Götterbilder, besonders die, welche
durch häufige Nachahmung gleichsam canonisch wurden, Denkmäler
der damals, als sie entstanden, herrschenden Religiosität, und um-
gekehrt hilft die Kenntniß der letztern die Zeit der erstern bestim-
men. Heyne's Abhandlung, de auctoribus formarum quibus
dii in priscae artis operibus efficti sunt, Commentat.
Gott. viii. p. xvi.,
führt einen sehr guten Gedanken aus der
in erweitertem Umfange wieder aufgenommen zu werden verdiente.

348. Am vollkommensten ist im Ganzen diese Thä-1
tigkeit bei denjenigen Göttern durchgebildet worden, welche

II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
der plaſtiſchen Kunſt ſtattfand. Als nun ihrerſeits die5
Plaſtik dahin gediehen war, die aͤußern Formen des Le-
bens in ihrer Wahrheit und Bedeutungsfuͤlle zu faſſen,
kam es nur darauf an, jene ſchon individualiſirten Vor-
ſtellungen in ihnen auszupraͤgen. Wenn auch dies nie
ohne eine ganz eigenthuͤmliche Auffaſſung, ohne Begeiſte-
rung und einen Akt des Genie’s von Seiten der Kuͤnſt-
ler geſchehen konnte: ſo war doch die allgemeine Vor-
ſtellung der Nation von dem Gotte da, um als Pruͤf-
ſtein der Richtigkeit der Darſtellung zu dienen. Fuͤhlte ſich6
nun die feſte und beſtimmte Vorſtellung von dem Gotte,
in Verbindung mit dem feinen Sinne der Griechen fuͤr
den Charakter der Formen, voͤllig befriedigt: ſo erwuch-
ſen Normalbilder, an welche ſich die darauf folgen-
den Kuͤnſtler, mit jenem Sinne der Helleniſchen Nation,
der von der orientaliſchen Starrheit wie von moderner
Eigenſucht gleich entfernt war, mit lebendiger Freiheit
anſchloſſen; es entſtanden Bildungen der Goͤtter und He-
roen, die nicht weniger innre Wahrheit und Feſtigkeit
hatten, als wenn die Goͤtter den Kuͤnſtlern ſelbſt geſeſſen
haͤtten. Alles dies iſt nur einmal ſo in der Welt gewe-7
ſen, weil nur in Griechenland die Kunſt in dem Maaße
Nationalthaͤtigkeit, nur die Griechiſche Nation im Gan-
zen eine große Kuͤnſtlerin war.

5. Wie die Götterideale ſich durch treues Feſthalten an der
Volksvorſtellung allmählig feſtgeſetzt, führt Dion Chryſoſt. xii
p.
210. nicht übel aus.

6. So ſind natürlich auch die Götterbilder, beſonders die, welche
durch häufige Nachahmung gleichſam canoniſch wurden, Denkmäler
der damals, als ſie entſtanden, herrſchenden Religioſität, und um-
gekehrt hilft die Kenntniß der letztern die Zeit der erſtern beſtim-
men. Heyne’s Abhandlung, de auctoribus formarum quibus
dii in priscae artis operibus efficti sunt, Commentat.
Gott. viii. p. xvi.,
führt einen ſehr guten Gedanken aus der
in erweitertem Umfange wieder aufgenommen zu werden verdiente.

348. Am vollkommenſten iſt im Ganzen dieſe Thaͤ-1
tigkeit bei denjenigen Goͤttern durchgebildet worden, welche

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[439/0461] II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde. der plaſtiſchen Kunſt ſtattfand. Als nun ihrerſeits die Plaſtik dahin gediehen war, die aͤußern Formen des Le- bens in ihrer Wahrheit und Bedeutungsfuͤlle zu faſſen, kam es nur darauf an, jene ſchon individualiſirten Vor- ſtellungen in ihnen auszupraͤgen. Wenn auch dies nie ohne eine ganz eigenthuͤmliche Auffaſſung, ohne Begeiſte- rung und einen Akt des Genie’s von Seiten der Kuͤnſt- ler geſchehen konnte: ſo war doch die allgemeine Vor- ſtellung der Nation von dem Gotte da, um als Pruͤf- ſtein der Richtigkeit der Darſtellung zu dienen. Fuͤhlte ſich nun die feſte und beſtimmte Vorſtellung von dem Gotte, in Verbindung mit dem feinen Sinne der Griechen fuͤr den Charakter der Formen, voͤllig befriedigt: ſo erwuch- ſen Normalbilder, an welche ſich die darauf folgen- den Kuͤnſtler, mit jenem Sinne der Helleniſchen Nation, der von der orientaliſchen Starrheit wie von moderner Eigenſucht gleich entfernt war, mit lebendiger Freiheit anſchloſſen; es entſtanden Bildungen der Goͤtter und He- roen, die nicht weniger innre Wahrheit und Feſtigkeit hatten, als wenn die Goͤtter den Kuͤnſtlern ſelbſt geſeſſen haͤtten. Alles dies iſt nur einmal ſo in der Welt gewe- ſen, weil nur in Griechenland die Kunſt in dem Maaße Nationalthaͤtigkeit, nur die Griechiſche Nation im Gan- zen eine große Kuͤnſtlerin war. 5 6 7 5. Wie die Götterideale ſich durch treues Feſthalten an der Volksvorſtellung allmählig feſtgeſetzt, führt Dion Chryſoſt. xii p. 210. nicht übel aus. 6. So ſind natürlich auch die Götterbilder, beſonders die, welche durch häufige Nachahmung gleichſam canoniſch wurden, Denkmäler der damals, als ſie entſtanden, herrſchenden Religioſität, und um- gekehrt hilft die Kenntniß der letztern die Zeit der erſtern beſtim- men. Heyne’s Abhandlung, de auctoribus formarum quibus dii in priscae artis operibus efficti sunt, Commentat. Gott. viii. p. xvi., führt einen ſehr guten Gedanken aus der in erweitertem Umfange wieder aufgenommen zu werden verdiente. 348. Am vollkommenſten iſt im Ganzen dieſe Thaͤ- tigkeit bei denjenigen Goͤttern durchgebildet worden, welche 1

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/461>, abgerufen am 23.11.2024.