Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

Systematischer Theil.
gabe sein, weil das Kunstvermögen sich an ihnen freier
und vollständiger in aller seiner schaffenden Kraft ent-
wickeln und bewähren kann.

2. Man vergleiche wieder, wie §. 8, 2. eine Bacchische Musik
mit einer plastischen Gruppe von Satyrn und Mänaden.


I. Mythologische Gegenstände.

1347. Die Griechen waren in gewisser Art so
glücklich, daß lange, ehe die Kunst zur äußern
Erscheinung gedieh, der Genius des Volks dem Künstler
vorgearbeitet und die gesammte Kunstwelt präformirt hatte.
2Das mystische, der Religion so wesentliche Element,
in welchem wir das göttliche Dasein als ein Unendliches,
vom menschlichem absolut Verschiednes, welches nie Dar-
stellung sondern nur Andeutung verträgt, ahnden und
fühlen (§. 31), war, wenn auch nie völlig verdrängt
(was nicht möglich ist), doch besonders durch die Poesie
3in den Hintergrund geschoben worden. Die Sagen,
welche das geheime Walten von universellen Naturmäch-
ten in oft absichtlich seltsamen und formlosen Bildern
mahlen, waren den Griechen schon in Homerischer Zeit
zum größten Theile bedeutungslos geworden; die Fest-
gebräuche, welche auf diesem Grunde wurzelten, wurden
als alte Cäremonien nach väterlicher Weise fortgeübt;
die Poesie aber verfolgte den ihr nothwendigen Weg,
Alles immer mehr nach der Analogie des menschlichen
Lebens durchzubilden: womit eine naive Frömmigkeit,
welche den Gott als menschlichen Schützer und Berather,
als Vater und Freund in aller Noth faßt, sich sehr wohl
4vertrug. Die Sänger, welche selbst nur Organe der
allgemeinen Stimmung waren, bildeten die Vorstellungen
immer individueller und fester aus, wenn auch freilich
Homer auf diesem Wege noch nicht zu der sinnlichen Be-
stimmtheit gelangt ist, welche in den Zeiten der Blüthe

Syſtematiſcher Theil.
gabe ſein, weil das Kunſtvermoͤgen ſich an ihnen freier
und vollſtaͤndiger in aller ſeiner ſchaffenden Kraft ent-
wickeln und bewaͤhren kann.

2. Man vergleiche wieder, wie §. 8, 2. eine Bacchiſche Muſik
mit einer plaſtiſchen Gruppe von Satyrn und Mänaden.


I. Mythologiſche Gegenſtaͤnde.

1347. Die Griechen waren in gewiſſer Art ſo
gluͤcklich, daß lange, ehe die Kunſt zur aͤußern
Erſcheinung gedieh, der Genius des Volks dem Kuͤnſtler
vorgearbeitet und die geſammte Kunſtwelt praͤformirt hatte.
2Das myſtiſche, der Religion ſo weſentliche Element,
in welchem wir das goͤttliche Daſein als ein Unendliches,
vom menſchlichem abſolut Verſchiednes, welches nie Dar-
ſtellung ſondern nur Andeutung vertraͤgt, ahnden und
fuͤhlen (§. 31), war, wenn auch nie voͤllig verdraͤngt
(was nicht moͤglich iſt), doch beſonders durch die Poeſie
3in den Hintergrund geſchoben worden. Die Sagen,
welche das geheime Walten von univerſellen Naturmaͤch-
ten in oft abſichtlich ſeltſamen und formloſen Bildern
mahlen, waren den Griechen ſchon in Homeriſcher Zeit
zum groͤßten Theile bedeutungslos geworden; die Feſt-
gebraͤuche, welche auf dieſem Grunde wurzelten, wurden
als alte Caͤremonien nach vaͤterlicher Weiſe fortgeuͤbt;
die Poeſie aber verfolgte den ihr nothwendigen Weg,
Alles immer mehr nach der Analogie des menſchlichen
Lebens durchzubilden: womit eine naive Froͤmmigkeit,
welche den Gott als menſchlichen Schuͤtzer und Berather,
als Vater und Freund in aller Noth faßt, ſich ſehr wohl
4vertrug. Die Saͤnger, welche ſelbſt nur Organe der
allgemeinen Stimmung waren, bildeten die Vorſtellungen
immer individueller und feſter aus, wenn auch freilich
Homer auf dieſem Wege noch nicht zu der ſinnlichen Be-
ſtimmtheit gelangt iſt, welche in den Zeiten der Bluͤthe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0460" n="438"/><fw place="top" type="header">Sy&#x017F;temati&#x017F;cher Theil.</fw><lb/>
gabe &#x017F;ein, weil das Kun&#x017F;tvermo&#x0364;gen &#x017F;ich an ihnen freier<lb/>
und voll&#x017F;ta&#x0364;ndiger in aller &#x017F;einer &#x017F;chaffenden Kraft ent-<lb/>
wickeln und bewa&#x0364;hren kann.</p><lb/>
              <p>2. Man vergleiche wieder, wie §. 8, 2. eine Bacchi&#x017F;che Mu&#x017F;ik<lb/>
mit einer pla&#x017F;ti&#x017F;chen Gruppe von Satyrn und Mänaden.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#aq">I.</hi> Mythologi&#x017F;che Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde.</head><lb/>
                <p><note place="left">1</note>347. Die Griechen waren in gewi&#x017F;&#x017F;er Art &#x017F;o<lb/>
glu&#x0364;cklich, daß lange, ehe die Kun&#x017F;t zur a&#x0364;ußern<lb/>
Er&#x017F;cheinung gedieh, der Genius des Volks dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
vorgearbeitet und die ge&#x017F;ammte Kun&#x017F;twelt pra&#x0364;formirt hatte.<lb/><note place="left">2</note>Das <hi rendition="#g">my&#x017F;ti&#x017F;che</hi>, der Religion &#x017F;o we&#x017F;entliche Element,<lb/>
in welchem wir das go&#x0364;ttliche Da&#x017F;ein als ein Unendliches,<lb/>
vom men&#x017F;chlichem ab&#x017F;olut Ver&#x017F;chiednes, welches nie Dar-<lb/>
&#x017F;tellung &#x017F;ondern nur Andeutung vertra&#x0364;gt, ahnden und<lb/>
fu&#x0364;hlen (§. 31), war, wenn auch nie vo&#x0364;llig verdra&#x0364;ngt<lb/>
(was nicht mo&#x0364;glich i&#x017F;t), doch be&#x017F;onders durch die Poe&#x017F;ie<lb/><note place="left">3</note>in den Hintergrund ge&#x017F;choben worden. Die Sagen,<lb/>
welche das geheime Walten von univer&#x017F;ellen Naturma&#x0364;ch-<lb/>
ten in oft ab&#x017F;ichtlich &#x017F;elt&#x017F;amen und formlo&#x017F;en Bildern<lb/>
mahlen, waren den Griechen &#x017F;chon in Homeri&#x017F;cher Zeit<lb/>
zum gro&#x0364;ßten Theile bedeutungslos geworden; die Fe&#x017F;t-<lb/>
gebra&#x0364;uche, welche auf die&#x017F;em Grunde wurzelten, wurden<lb/>
als alte Ca&#x0364;remonien nach va&#x0364;terlicher Wei&#x017F;e fortgeu&#x0364;bt;<lb/>
die Poe&#x017F;ie aber verfolgte den ihr nothwendigen Weg,<lb/>
Alles immer mehr nach der Analogie des men&#x017F;chlichen<lb/>
Lebens durchzubilden: womit eine naive Fro&#x0364;mmigkeit,<lb/>
welche den Gott als men&#x017F;chlichen Schu&#x0364;tzer und Berather,<lb/>
als Vater und Freund in aller Noth faßt, &#x017F;ich &#x017F;ehr wohl<lb/><note place="left">4</note>vertrug. Die Sa&#x0364;nger, welche &#x017F;elb&#x017F;t nur Organe der<lb/>
allgemeinen Stimmung waren, bildeten die Vor&#x017F;tellungen<lb/>
immer individueller und fe&#x017F;ter aus, wenn auch freilich<lb/>
Homer auf die&#x017F;em Wege noch nicht zu der &#x017F;innlichen Be-<lb/>
&#x017F;timmtheit gelangt i&#x017F;t, welche in den Zeiten der Blu&#x0364;the<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[438/0460] Syſtematiſcher Theil. gabe ſein, weil das Kunſtvermoͤgen ſich an ihnen freier und vollſtaͤndiger in aller ſeiner ſchaffenden Kraft ent- wickeln und bewaͤhren kann. 2. Man vergleiche wieder, wie §. 8, 2. eine Bacchiſche Muſik mit einer plaſtiſchen Gruppe von Satyrn und Mänaden. I. Mythologiſche Gegenſtaͤnde. 347. Die Griechen waren in gewiſſer Art ſo gluͤcklich, daß lange, ehe die Kunſt zur aͤußern Erſcheinung gedieh, der Genius des Volks dem Kuͤnſtler vorgearbeitet und die geſammte Kunſtwelt praͤformirt hatte. Das myſtiſche, der Religion ſo weſentliche Element, in welchem wir das goͤttliche Daſein als ein Unendliches, vom menſchlichem abſolut Verſchiednes, welches nie Dar- ſtellung ſondern nur Andeutung vertraͤgt, ahnden und fuͤhlen (§. 31), war, wenn auch nie voͤllig verdraͤngt (was nicht moͤglich iſt), doch beſonders durch die Poeſie in den Hintergrund geſchoben worden. Die Sagen, welche das geheime Walten von univerſellen Naturmaͤch- ten in oft abſichtlich ſeltſamen und formloſen Bildern mahlen, waren den Griechen ſchon in Homeriſcher Zeit zum groͤßten Theile bedeutungslos geworden; die Feſt- gebraͤuche, welche auf dieſem Grunde wurzelten, wurden als alte Caͤremonien nach vaͤterlicher Weiſe fortgeuͤbt; die Poeſie aber verfolgte den ihr nothwendigen Weg, Alles immer mehr nach der Analogie des menſchlichen Lebens durchzubilden: womit eine naive Froͤmmigkeit, welche den Gott als menſchlichen Schuͤtzer und Berather, als Vater und Freund in aller Noth faßt, ſich ſehr wohl vertrug. Die Saͤnger, welche ſelbſt nur Organe der allgemeinen Stimmung waren, bildeten die Vorſtellungen immer individueller und feſter aus, wenn auch freilich Homer auf dieſem Wege noch nicht zu der ſinnlichen Be- ſtimmtheit gelangt iſt, welche in den Zeiten der Bluͤthe 1 2 3 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/460
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/460>, abgerufen am 23.11.2024.