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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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II. Bildende Kunst. Formen.
einschlug; daher man sich nie Bühnenscenen unmittelbar
nach Kunstvorstellungen und umgekehrt vorstellen darf.
So verbreitet jedoch das Gefühl und der Enthusiasmus4
für die Schönheit des Körpers an sich war, und so sehr
die Künstler die Gelegenheit zu solcher Darstellung such-
ten: so selten wurde doch diese Gelegenheit willkührlich
herbeigeführt, so wenig riß sich der Künstler vom Leben
los, das auch in seiner geschichtlichen positiven Ausbildung,
mit seinen Sitten und Einrichtungen, bei der Bildung
der Kunstformen zum Grunde gelegt werden mußte. Die
Nacktheit bot sich als natürlich dar bei allen gymnasti-
schen und athletischen Figuren; von hier wurde sie mit
Leichtigkeit auf die männlichen Göttergestalten, die eine
altväterische Frömmigkeit sehr zierlich und weitläuftig be-
kleidet hatte, und auf Heroen, welche die ältre Kunst
in vollständiger Rüstung zeigte, übertragen, indem hier
die edelste Darstellung als die natürliche erschien. Unter-5
kleider, welche die Gestalt am meisten verdecken, wurden
hier durchgängig entfernt, was um so leichter anging,
da in Griechenland nach alter Sitte Männer von gesun-
dem und kräftigem Körper im bloßen Oberkleid ohne Chi-
ton auszugehn pflegten: Götter und Heroen in Chitonen
sind daher in der ausgebildeten Griechischen Kunst höchst
selten zu finden. Das Obergewand aber wird in der6
Kunst, wie im gewöhnlichen Leben, bei jeder lebendige-
ren Thätigkeit und Arbeit hinweggethan; stehende Göt-
tergestalten, welche man sich hülfreich herbeikommend,
kämpfend oder sonst wirksam dachte, konnten hiernach
ganz ohne Hülle erscheinen. Dagegen wird bei sitzenden
Statuen das Obergewand selten weggelassen, welches sich
dann um die Hüften zu legen pflegt; es bezeichnet Ruhe
und Unthätigkeit. Auf diese Weise wird das Gewand
bei ideellen Figuren selbst bedeutsam, und ein inhaltrei-
ches Attribut. Dabei liebt die alte Kunst eine zusam-7
mengezogne und andeutende Behandlung; der Helm be-
deutet die ganze Rüstung, ein Stück Chlamys die ganze
Bekleidung des Epheben. Kinder nackt darzustellen,8

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II. Bildende Kunſt. Formen.
einſchlug; daher man ſich nie Buͤhnenſcenen unmittelbar
nach Kunſtvorſtellungen und umgekehrt vorſtellen darf.
So verbreitet jedoch das Gefuͤhl und der Enthuſiasmus4
fuͤr die Schoͤnheit des Koͤrpers an ſich war, und ſo ſehr
die Kuͤnſtler die Gelegenheit zu ſolcher Darſtellung ſuch-
ten: ſo ſelten wurde doch dieſe Gelegenheit willkuͤhrlich
herbeigefuͤhrt, ſo wenig riß ſich der Kuͤnſtler vom Leben
los, das auch in ſeiner geſchichtlichen poſitiven Ausbildung,
mit ſeinen Sitten und Einrichtungen, bei der Bildung
der Kunſtformen zum Grunde gelegt werden mußte. Die
Nacktheit bot ſich als natuͤrlich dar bei allen gymnaſti-
ſchen und athletiſchen Figuren; von hier wurde ſie mit
Leichtigkeit auf die maͤnnlichen Goͤttergeſtalten, die eine
altvaͤteriſche Froͤmmigkeit ſehr zierlich und weitlaͤuftig be-
kleidet hatte, und auf Heroen, welche die aͤltre Kunſt
in vollſtaͤndiger Ruͤſtung zeigte, uͤbertragen, indem hier
die edelſte Darſtellung als die natuͤrliche erſchien. Unter-5
kleider, welche die Geſtalt am meiſten verdecken, wurden
hier durchgaͤngig entfernt, was um ſo leichter anging,
da in Griechenland nach alter Sitte Maͤnner von geſun-
dem und kraͤftigem Koͤrper im bloßen Oberkleid ohne Chi-
ton auszugehn pflegten: Goͤtter und Heroen in Chitonen
ſind daher in der ausgebildeten Griechiſchen Kunſt hoͤchſt
ſelten zu finden. Das Obergewand aber wird in der6
Kunſt, wie im gewoͤhnlichen Leben, bei jeder lebendige-
ren Thaͤtigkeit und Arbeit hinweggethan; ſtehende Goͤt-
tergeſtalten, welche man ſich huͤlfreich herbeikommend,
kaͤmpfend oder ſonſt wirkſam dachte, konnten hiernach
ganz ohne Huͤlle erſcheinen. Dagegen wird bei ſitzenden
Statuen das Obergewand ſelten weggelaſſen, welches ſich
dann um die Huͤften zu legen pflegt; es bezeichnet Ruhe
und Unthaͤtigkeit. Auf dieſe Weiſe wird das Gewand
bei ideellen Figuren ſelbſt bedeutſam, und ein inhaltrei-
ches Attribut. Dabei liebt die alte Kunſt eine zuſam-7
mengezogne und andeutende Behandlung; der Helm be-
deutet die ganze Ruͤſtung, ein Stuͤck Chlamys die ganze
Bekleidung des Epheben. Kinder nackt darzuſtellen,8

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[419/0441] II. Bildende Kunſt. Formen. einſchlug; daher man ſich nie Buͤhnenſcenen unmittelbar nach Kunſtvorſtellungen und umgekehrt vorſtellen darf. So verbreitet jedoch das Gefuͤhl und der Enthuſiasmus fuͤr die Schoͤnheit des Koͤrpers an ſich war, und ſo ſehr die Kuͤnſtler die Gelegenheit zu ſolcher Darſtellung ſuch- ten: ſo ſelten wurde doch dieſe Gelegenheit willkuͤhrlich herbeigefuͤhrt, ſo wenig riß ſich der Kuͤnſtler vom Leben los, das auch in ſeiner geſchichtlichen poſitiven Ausbildung, mit ſeinen Sitten und Einrichtungen, bei der Bildung der Kunſtformen zum Grunde gelegt werden mußte. Die Nacktheit bot ſich als natuͤrlich dar bei allen gymnaſti- ſchen und athletiſchen Figuren; von hier wurde ſie mit Leichtigkeit auf die maͤnnlichen Goͤttergeſtalten, die eine altvaͤteriſche Froͤmmigkeit ſehr zierlich und weitlaͤuftig be- kleidet hatte, und auf Heroen, welche die aͤltre Kunſt in vollſtaͤndiger Ruͤſtung zeigte, uͤbertragen, indem hier die edelſte Darſtellung als die natuͤrliche erſchien. Unter- kleider, welche die Geſtalt am meiſten verdecken, wurden hier durchgaͤngig entfernt, was um ſo leichter anging, da in Griechenland nach alter Sitte Maͤnner von geſun- dem und kraͤftigem Koͤrper im bloßen Oberkleid ohne Chi- ton auszugehn pflegten: Goͤtter und Heroen in Chitonen ſind daher in der ausgebildeten Griechiſchen Kunſt hoͤchſt ſelten zu finden. Das Obergewand aber wird in der Kunſt, wie im gewoͤhnlichen Leben, bei jeder lebendige- ren Thaͤtigkeit und Arbeit hinweggethan; ſtehende Goͤt- tergeſtalten, welche man ſich huͤlfreich herbeikommend, kaͤmpfend oder ſonſt wirkſam dachte, konnten hiernach ganz ohne Huͤlle erſcheinen. Dagegen wird bei ſitzenden Statuen das Obergewand ſelten weggelaſſen, welches ſich dann um die Huͤften zu legen pflegt; es bezeichnet Ruhe und Unthaͤtigkeit. Auf dieſe Weiſe wird das Gewand bei ideellen Figuren ſelbſt bedeutſam, und ein inhaltrei- ches Attribut. Dabei liebt die alte Kunſt eine zuſam- mengezogne und andeutende Behandlung; der Helm be- deutet die ganze Ruͤſtung, ein Stuͤck Chlamys die ganze Bekleidung des Epheben. Kinder nackt darzuſtellen, 4 5 6 7 8 27*

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/441>, abgerufen am 22.11.2024.