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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Griechen. Dritte Periode.
und Eurhythmie das Streben nach Natur und Wahrheit
in manchen Punkten bedingte. Abgesehn davon, finden
wir überall eine Wahrheit in der Nachahmung der Natur,
welche ohne Wesentliches (wie die von der Anstrengung
schwellenden Adern) zu unterdrücken, ohne sich irgendwie
über die Natur erheben zu wollen, den höchsten Adel und
die reinste Schönheit erreicht; ein Feuer und eine Leben-
digkeit der Bewegung, wo sie die Sache fordert, und eine
Behaglichkeit und Bequemlichkeit der Ruhe, wo diese,
wie besonders bei Göttern, angemessen erschien, ohne alle
Manier und Affektation; die größte Natürlichkeit und
Leichtigkeit in der Behandlung der Gewänder, wo nicht
Regelmäßigkeit und Steifheit grade erforderlich ist; ein
lichtvolles Hervorheben der Hauptvorstellung und eine
Fülle sinnreich erfundner Motive in untergeordneten Grup-
pen: endlich eine natürliche Würde und Anmuth vereint
mit der größten Unbefangenheit und Anspruchslosigkeit,
ohne alles Streben nach Lockung der Sinne, glänzendem
Effekt und Hervorhebung der eignen Meisterhaftigkeit,
welche die besten Zeiten, nicht blos der Kunst, sondern
auch des Griechischen Lebens überhaupt charakterisirt.

Die Alten rühmen an Phidias besonders to megaleion kai
to akribes ama Demetr. de eloc. 14. to semnon kai me-
galotekhnon kai axiomatikon, Dionys. Hal. de Isocr. p. 542.


120. Neben dieser Attischen Schule erhebt sich auch1
die Sikyonisch-Argivische (vgl. §. 82.) durch den großen
Polykleitos zu ihrem Gipfel. Obschon dieser Meister2
in seinem Colossalbilde der Hera zu Argos nach Einigen
die Kunst der Toreutik noch vervollkommnete: so stand3
er doch im Bilden von Göttern im Allgemeinen dem Phi-
dias bei weitem nach. Dagegen schwang sich durch ihn4
die im Peloponnes vorwaltende Kunst, Erzstatuen von
Athleten zu bilden, zur vollkommensten Darstellung schö-
ner gymnastischer Figuren empor, an denen zwar keines-
wegs ein eigenthümlicher Charakter vermißt wurde, aber

7*

Griechen. Dritte Periode.
und Eurhythmie das Streben nach Natur und Wahrheit
in manchen Punkten bedingte. Abgeſehn davon, finden
wir uͤberall eine Wahrheit in der Nachahmung der Natur,
welche ohne Weſentliches (wie die von der Anſtrengung
ſchwellenden Adern) zu unterdruͤcken, ohne ſich irgendwie
uͤber die Natur erheben zu wollen, den hoͤchſten Adel und
die reinſte Schoͤnheit erreicht; ein Feuer und eine Leben-
digkeit der Bewegung, wo ſie die Sache fordert, und eine
Behaglichkeit und Bequemlichkeit der Ruhe, wo dieſe,
wie beſonders bei Goͤttern, angemeſſen erſchien, ohne alle
Manier und Affektation; die groͤßte Natuͤrlichkeit und
Leichtigkeit in der Behandlung der Gewaͤnder, wo nicht
Regelmaͤßigkeit und Steifheit grade erforderlich iſt; ein
lichtvolles Hervorheben der Hauptvorſtellung und eine
Fuͤlle ſinnreich erfundner Motive in untergeordneten Grup-
pen: endlich eine natuͤrliche Wuͤrde und Anmuth vereint
mit der groͤßten Unbefangenheit und Anſpruchsloſigkeit,
ohne alles Streben nach Lockung der Sinne, glaͤnzendem
Effekt und Hervorhebung der eignen Meiſterhaftigkeit,
welche die beſten Zeiten, nicht blos der Kunſt, ſondern
auch des Griechiſchen Lebens uͤberhaupt charakteriſirt.

Die Alten rühmen an Phidias beſonders τὸ μεγαλεῖον καὶ
τὸ ἀκριβὲς ἅμα Demetr. de eloc. 14. τὸ σεμνὸν καὶ με-
γαλότεχνον καὶ ἀξιωματικόν, Dionyſ. Hal. de Isocr. p. 542.


120. Neben dieſer Attiſchen Schule erhebt ſich auch1
die Sikyoniſch-Argiviſche (vgl. §. 82.) durch den großen
Polykleitos zu ihrem Gipfel. Obſchon dieſer Meiſter2
in ſeinem Coloſſalbilde der Hera zu Argos nach Einigen
die Kunſt der Toreutik noch vervollkommnete: ſo ſtand3
er doch im Bilden von Goͤttern im Allgemeinen dem Phi-
dias bei weitem nach. Dagegen ſchwang ſich durch ihn4
die im Peloponnes vorwaltende Kunſt, Erzſtatuen von
Athleten zu bilden, zur vollkommenſten Darſtellung ſchoͤ-
ner gymnaſtiſcher Figuren empor, an denen zwar keines-
wegs ein eigenthuͤmlicher Charakter vermißt wurde, aber

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[99/0121] Griechen. Dritte Periode. und Eurhythmie das Streben nach Natur und Wahrheit in manchen Punkten bedingte. Abgeſehn davon, finden wir uͤberall eine Wahrheit in der Nachahmung der Natur, welche ohne Weſentliches (wie die von der Anſtrengung ſchwellenden Adern) zu unterdruͤcken, ohne ſich irgendwie uͤber die Natur erheben zu wollen, den hoͤchſten Adel und die reinſte Schoͤnheit erreicht; ein Feuer und eine Leben- digkeit der Bewegung, wo ſie die Sache fordert, und eine Behaglichkeit und Bequemlichkeit der Ruhe, wo dieſe, wie beſonders bei Goͤttern, angemeſſen erſchien, ohne alle Manier und Affektation; die groͤßte Natuͤrlichkeit und Leichtigkeit in der Behandlung der Gewaͤnder, wo nicht Regelmaͤßigkeit und Steifheit grade erforderlich iſt; ein lichtvolles Hervorheben der Hauptvorſtellung und eine Fuͤlle ſinnreich erfundner Motive in untergeordneten Grup- pen: endlich eine natuͤrliche Wuͤrde und Anmuth vereint mit der groͤßten Unbefangenheit und Anſpruchsloſigkeit, ohne alles Streben nach Lockung der Sinne, glaͤnzendem Effekt und Hervorhebung der eignen Meiſterhaftigkeit, welche die beſten Zeiten, nicht blos der Kunſt, ſondern auch des Griechiſchen Lebens uͤberhaupt charakteriſirt. Die Alten rühmen an Phidias beſonders τὸ μεγαλεῖον καὶ τὸ ἀκριβὲς ἅμα Demetr. de eloc. 14. τὸ σεμνὸν καὶ με- γαλότεχνον καὶ ἀξιωματικόν, Dionyſ. Hal. de Isocr. p. 542. 120. Neben dieſer Attiſchen Schule erhebt ſich auch die Sikyoniſch-Argiviſche (vgl. §. 82.) durch den großen Polykleitos zu ihrem Gipfel. Obſchon dieſer Meiſter in ſeinem Coloſſalbilde der Hera zu Argos nach Einigen die Kunſt der Toreutik noch vervollkommnete: ſo ſtand er doch im Bilden von Goͤttern im Allgemeinen dem Phi- dias bei weitem nach. Dagegen ſchwang ſich durch ihn die im Peloponnes vorwaltende Kunſt, Erzſtatuen von Athleten zu bilden, zur vollkommenſten Darſtellung ſchoͤ- ner gymnaſtiſcher Figuren empor, an denen zwar keines- wegs ein eigenthuͤmlicher Charakter vermißt wurde, aber 1 2 3 4 7*

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/121>, abgerufen am 28.04.2024.