Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

der Wanderungen statt gefunden haben, weil es sich
sonst nicht erklären läßt, wie ganz eigenthümliche For-
men des Dorismus Kreta mit Argos, Sparta gemein
sind; so wie auch die Dialekte, die man als Unterab-
theilungen der Aeolischen Mundart zu betrachten gewohnt
ist, damals schon existirt haben müssen, da die Lesbi-
sche Mundart der Boeotischen aus keinem andern Grunde
am nächsten kommt, als weil damals Boeoter nach Les-
bos wanderten. Der Jonische Dialekt dagegen wird in
seinen Besonderheiten wohl nur als eine im weichen Kli-
ma Asiens unter asiatischen Einflüssen gebildete Mund-
art anzusehn sein, als eine Verweichlichung und Entar-
tung 1 -- da der zunächst verwandte Attische Stamm in
seiner Sprache nur geringe Spuren davon zeigt. Aber
die Entstehung des Attischen Dialekts ist überhaupt sehr
räthselhaft, da nicht anzunehmen ist, daß eine Gemeine
von funfzehntausend Männern von Anfang an eine von
den übrigen Griechen so sehr verschiedne Mundart ge-
redet; ohne Zweifel hängt seine Bildung weit mehr von
der Schrift ab, und es sind Bewußtsein und Reflexion
und freie Wahl zwischen schon vorhandnen Formen im
Attischen Dialekt weit thätiger gewesen, als in allen
übrigen. Der Verfasser verheißt, genauere und spe-
ciellere Untersuchungen der Art in der zweiten Beilage
anzuknüpfen. --



1 Die Alten sagen öfter, daß die Jonier in Asien elumenan-
to tes dialektou to patrion. Hephaestion Gaisf. S. 234.

der Wanderungen ſtatt gefunden haben, weil es ſich
ſonſt nicht erklaͤren laͤßt, wie ganz eigenthuͤmliche For-
men des Dorismus Kreta mit Argos, Sparta gemein
ſind; ſo wie auch die Dialekte, die man als Unterab-
theilungen der Aeoliſchen Mundart zu betrachten gewohnt
iſt, damals ſchon exiſtirt haben muͤſſen, da die Lesbi-
ſche Mundart der Boeotiſchen aus keinem andern Grunde
am naͤchſten kommt, als weil damals Boeoter nach Les-
bos wanderten. Der Joniſche Dialekt dagegen wird in
ſeinen Beſonderheiten wohl nur als eine im weichen Kli-
ma Aſiens unter aſiatiſchen Einfluͤſſen gebildete Mund-
art anzuſehn ſein, als eine Verweichlichung und Entar-
tung 1 — da der zunaͤchſt verwandte Attiſche Stamm in
ſeiner Sprache nur geringe Spuren davon zeigt. Aber
die Entſtehung des Attiſchen Dialekts iſt uͤberhaupt ſehr
raͤthſelhaft, da nicht anzunehmen iſt, daß eine Gemeine
von funfzehntauſend Maͤnnern von Anfang an eine von
den uͤbrigen Griechen ſo ſehr verſchiedne Mundart ge-
redet; ohne Zweifel haͤngt ſeine Bildung weit mehr von
der Schrift ab, und es ſind Bewußtſein und Reflexion
und freie Wahl zwiſchen ſchon vorhandnen Formen im
Attiſchen Dialekt weit thaͤtiger geweſen, als in allen
uͤbrigen. Der Verfaſſer verheißt, genauere und ſpe-
ciellere Unterſuchungen der Art in der zweiten Beilage
anzuknuͤpfen. —



1 Die Alten ſagen oͤfter, daß die Jonier in Aſien ἐλυμήναν-
το τῆς διαλέκτου τὸ πάτϱιον. Hephaeſtion Gaisf. S. 234.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0046" n="16"/>
der Wanderungen &#x017F;tatt gefunden haben, weil es &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t nicht erkla&#x0364;ren la&#x0364;ßt, wie ganz eigenthu&#x0364;mliche For-<lb/>
men des Dorismus Kreta mit Argos, Sparta gemein<lb/>
&#x017F;ind; &#x017F;o wie auch die Dialekte, die man als Unterab-<lb/>
theilungen der Aeoli&#x017F;chen Mundart zu betrachten gewohnt<lb/>
i&#x017F;t, damals &#x017F;chon exi&#x017F;tirt haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, da die Lesbi-<lb/>
&#x017F;che Mundart der Boeoti&#x017F;chen aus keinem andern Grunde<lb/>
am na&#x0364;ch&#x017F;ten kommt, als weil damals Boeoter nach Les-<lb/>
bos wanderten. Der Joni&#x017F;che Dialekt dagegen wird in<lb/>
&#x017F;einen Be&#x017F;onderheiten wohl nur als eine im weichen Kli-<lb/>
ma A&#x017F;iens unter a&#x017F;iati&#x017F;chen Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en gebildete Mund-<lb/>
art anzu&#x017F;ehn &#x017F;ein, als eine Verweichlichung und Entar-<lb/>
tung <note place="foot" n="1">Die Alten &#x017F;agen o&#x0364;fter, daß die Jonier in A&#x017F;ien &#x1F10;&#x03BB;&#x03C5;&#x03BC;&#x03AE;&#x03BD;&#x03B1;&#x03BD;-<lb/>
&#x03C4;&#x03BF; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B9;&#x03B1;&#x03BB;&#x03AD;&#x03BA;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C5; &#x03C4;&#x1F78; &#x03C0;&#x03AC;&#x03C4;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD;. Hephae&#x017F;tion Gaisf. S. 234.</note> &#x2014; da der zuna&#x0364;ch&#x017F;t verwandte Atti&#x017F;che Stamm in<lb/>
&#x017F;einer Sprache nur geringe Spuren davon zeigt. Aber<lb/>
die Ent&#x017F;tehung des Atti&#x017F;chen Dialekts i&#x017F;t u&#x0364;berhaupt &#x017F;ehr<lb/>
ra&#x0364;th&#x017F;elhaft, da nicht anzunehmen i&#x017F;t, daß eine Gemeine<lb/>
von funfzehntau&#x017F;end Ma&#x0364;nnern von Anfang an eine von<lb/>
den u&#x0364;brigen Griechen &#x017F;o &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedne Mundart ge-<lb/>
redet; ohne Zweifel ha&#x0364;ngt &#x017F;eine Bildung weit mehr von<lb/>
der Schrift ab, und es &#x017F;ind Bewußt&#x017F;ein und Reflexion<lb/>
und freie Wahl zwi&#x017F;chen &#x017F;chon vorhandnen Formen im<lb/>
Atti&#x017F;chen Dialekt weit tha&#x0364;tiger gewe&#x017F;en, als in allen<lb/>
u&#x0364;brigen. Der Verfa&#x017F;&#x017F;er verheißt, genauere und &#x017F;pe-<lb/>
ciellere Unter&#x017F;uchungen der Art in der zweiten Beilage<lb/>
anzuknu&#x0364;pfen. &#x2014;</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0046] der Wanderungen ſtatt gefunden haben, weil es ſich ſonſt nicht erklaͤren laͤßt, wie ganz eigenthuͤmliche For- men des Dorismus Kreta mit Argos, Sparta gemein ſind; ſo wie auch die Dialekte, die man als Unterab- theilungen der Aeoliſchen Mundart zu betrachten gewohnt iſt, damals ſchon exiſtirt haben muͤſſen, da die Lesbi- ſche Mundart der Boeotiſchen aus keinem andern Grunde am naͤchſten kommt, als weil damals Boeoter nach Les- bos wanderten. Der Joniſche Dialekt dagegen wird in ſeinen Beſonderheiten wohl nur als eine im weichen Kli- ma Aſiens unter aſiatiſchen Einfluͤſſen gebildete Mund- art anzuſehn ſein, als eine Verweichlichung und Entar- tung 1 — da der zunaͤchſt verwandte Attiſche Stamm in ſeiner Sprache nur geringe Spuren davon zeigt. Aber die Entſtehung des Attiſchen Dialekts iſt uͤberhaupt ſehr raͤthſelhaft, da nicht anzunehmen iſt, daß eine Gemeine von funfzehntauſend Maͤnnern von Anfang an eine von den uͤbrigen Griechen ſo ſehr verſchiedne Mundart ge- redet; ohne Zweifel haͤngt ſeine Bildung weit mehr von der Schrift ab, und es ſind Bewußtſein und Reflexion und freie Wahl zwiſchen ſchon vorhandnen Formen im Attiſchen Dialekt weit thaͤtiger geweſen, als in allen uͤbrigen. Der Verfaſſer verheißt, genauere und ſpe- ciellere Unterſuchungen der Art in der zweiten Beilage anzuknuͤpfen. — 1 Die Alten ſagen oͤfter, daß die Jonier in Aſien ἐλυμήναν- το τῆς διαλέκτου τὸ πάτϱιον. Hephaeſtion Gaisf. S. 234.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/46
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/46>, abgerufen am 03.12.2024.