darf, wie milde und huldvoll uns die Gottheit beschützt und schirmet. -- Wie aber der reine Gott selbst sich mit Blut beflecken muß: so führt es auch das mensch- liche Leben theils durch die Einwirkung der Natur, theils durch den Ausbruch unbewachter Leidenschaft gar oft- mals herbei, daß die innere Ruhe und Klarheit getrübt und verdunkelt wird. Wenn eine dämonische und sinn- verwirrende Gewalt (Ate) das Gemüth zu wilder That fortreißt, und aus der Bahn des sichern und ge- ordneten Thuns auf wüste Abwege treibt: so sehnt sich der Mensch, durch einen bestimmten einzelnen Akt die- sem Zustande ein Ende gemacht, und sich von der schmerzlichen Zerrissenheit des Gemüths befreit zu sehn. Dies wirkt die feierliche Sühne und Reinigung in die- ser Religion. Diese tritt theils nach einzelnen Hand- lungen jener Art ein, und gehört so ganz zum alten Jus sacrum. Dann bedarf ihrer aber auch das gewöhn- liche Leben von Zeit zu Zeit, und darum sind mit dem öffentlichen Cultus des Gottes Sühnfeste verbunden, in denen nicht blos der Einzelne, sondern die ganze Stadt gereinigt und gesühnt wird. Am passendsten werden diese Feste in den Frühling gelegt, wenn die Schauer des Winters verschwunden sind, und das Leben von neuem begonnen. Hier aber genügen nicht mehr jene frommen Oblationen, auch Thieropfer nicht, das Be- dürfniß der Sühne scheint dem schmerzlich bewegten Gemüthe ein größeres Opfer zu fordern. In Athen wurden an den Thargelien zwei Männer (oder ein Mann und eine Frau,) mit Blumen und Früchten ge- schmückt, mit duftenden Kräutern eingerieben, feier- lichst wie Opferthiere vor das Thor geführt, unter Ver- wünschungen vom Felsen gestürzt, unten aber wahrscheinlich aufgefangen und über die Eränze gebracht. Man nahm zu diesen Sühnopfern (pharmakoi) überwiesene Verbre-
darf, wie milde und huldvoll uns die Gottheit beſchuͤtzt und ſchirmet. — Wie aber der reine Gott ſelbſt ſich mit Blut beflecken muß: ſo fuͤhrt es auch das menſch- liche Leben theils durch die Einwirkung der Natur, theils durch den Ausbruch unbewachter Leidenſchaft gar oft- mals herbei, daß die innere Ruhe und Klarheit getruͤbt und verdunkelt wird. Wenn eine daͤmoniſche und ſinn- verwirrende Gewalt (Ἄτη) das Gemuͤth zu wilder That fortreißt, und aus der Bahn des ſichern und ge- ordneten Thuns auf wuͤſte Abwege treibt: ſo ſehnt ſich der Menſch, durch einen beſtimmten einzelnen Akt die- ſem Zuſtande ein Ende gemacht, und ſich von der ſchmerzlichen Zerriſſenheit des Gemuͤths befreit zu ſehn. Dies wirkt die feierliche Suͤhne und Reinigung in die- ſer Religion. Dieſe tritt theils nach einzelnen Hand- lungen jener Art ein, und gehoͤrt ſo ganz zum alten Jus sacrum. Dann bedarf ihrer aber auch das gewoͤhn- liche Leben von Zeit zu Zeit, und darum ſind mit dem oͤffentlichen Cultus des Gottes Suͤhnfeſte verbunden, in denen nicht blos der Einzelne, ſondern die ganze Stadt gereinigt und geſuͤhnt wird. Am paſſendſten werden dieſe Feſte in den Fruͤhling gelegt, wenn die Schauer des Winters verſchwunden ſind, und das Leben von neuem begonnen. Hier aber genuͤgen nicht mehr jene frommen Oblationen, auch Thieropfer nicht, das Be- duͤrfniß der Suͤhne ſcheint dem ſchmerzlich bewegten Gemuͤthe ein groͤßeres Opfer zu fordern. In Athen wurden an den Thargelien zwei Maͤnner (oder ein Mann und eine Frau,) mit Blumen und Fruͤchten ge- ſchmuͤckt, mit duftenden Kraͤutern eingerieben, feier- lichſt wie Opferthiere vor das Thor gefuͤhrt, unter Ver- wuͤnſchungen vom Felſen geſtuͤrzt, unten aber wahrſcheinlich aufgefangen und uͤber die Eraͤnze gebracht. Man nahm zu dieſen Suͤhnopfern (φαϱμακοί) uͤberwieſene Verbre-
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darf, wie milde und huldvoll uns die Gottheit beſchuͤtzt
und ſchirmet. — Wie aber der reine Gott ſelbſt ſich
mit Blut beflecken muß: ſo fuͤhrt es auch das menſch-
liche Leben theils durch die Einwirkung der Natur, theils
durch den Ausbruch unbewachter Leidenſchaft gar oft-
mals herbei, daß die innere Ruhe und Klarheit getruͤbt
und verdunkelt wird. Wenn eine daͤmoniſche und ſinn-
verwirrende Gewalt (Ἄτη) das Gemuͤth zu wilder
That fortreißt, und aus der Bahn des ſichern und ge-
ordneten Thuns auf wuͤſte Abwege treibt: ſo ſehnt ſich
der Menſch, durch einen beſtimmten einzelnen Akt die-
ſem Zuſtande ein Ende gemacht, und ſich von der
ſchmerzlichen Zerriſſenheit des Gemuͤths befreit zu ſehn.
Dies wirkt die feierliche Suͤhne und Reinigung in die-
ſer Religion. Dieſe tritt theils nach einzelnen Hand-
lungen jener Art ein, und gehoͤrt ſo ganz zum alten
Jus sacrum. Dann bedarf ihrer aber auch das gewoͤhn-
liche Leben von Zeit zu Zeit, und darum ſind mit dem
oͤffentlichen Cultus des Gottes Suͤhnfeſte verbunden,
in denen nicht blos der Einzelne, ſondern die ganze
Stadt gereinigt und geſuͤhnt wird. Am paſſendſten
werden dieſe Feſte in den Fruͤhling gelegt, wenn die
Schauer des Winters verſchwunden ſind, und das Leben
von neuem begonnen. Hier aber genuͤgen nicht mehr jene
frommen Oblationen, auch Thieropfer nicht, das Be-
duͤrfniß der Suͤhne ſcheint dem ſchmerzlich bewegten
Gemuͤthe ein groͤßeres Opfer zu fordern. In Athen
wurden an den Thargelien zwei Maͤnner (oder ein
Mann und eine Frau,) mit Blumen und Fruͤchten ge-
ſchmuͤckt, mit duftenden Kraͤutern eingerieben, feier-
lichſt wie Opferthiere vor das Thor gefuͤhrt, unter Ver-
wuͤnſchungen vom Felſen geſtuͤrzt, unten aber wahrſcheinlich
aufgefangen und uͤber die Eraͤnze gebracht. Man nahm
zu dieſen Suͤhnopfern (φαϱμακοί) uͤberwieſene Verbre-
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/356>, abgerufen am 09.11.2024.
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