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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Schlafe die Phantasmen und die verbliebenen Bewegungen
bald vor der größern genannten Bewegung, bald aber
auch erscheinen verzerrte Gesichte und unangenehme Träu-
me, wie bei den Melancholischen, den Fiebernden und Trun-
kenen. Alle diese Leidenschaften, weil sie geistig sind, be-
wirken viel Bewegung und Störung. Sobald aber das
Blut in den Gefäßen beruhigt wird und sich vertheilt, er-
hält sich die von jeder Sinnesenergie (aisthesis) entstan-
dene Bewegung des Wahrgenommenen (aisthema) und macht
angenehme Träume und läßt etwas erscheinen, sichtbar
was von dem Gesicht verpflanzt wird, hörbar, was von
dem Gehör und ähnliches von den anderen Sinnesorganen.
Denn dadurch, daß die Bewegung bis zum Ursprung der
Empfindung gelangt, muß gesehen, gehört, empfun-
den werden. Eben wie das Gesicht manchmal erregt
scheint, wenn es nicht ist, und wie eines als zwei erscheint
dadurch, daß das Getaste zwei ankündigt. Denn allemal
vernimmt der Ursprung der Empfindung, was von jeder
Sinnesenergie beigebracht wird, wenn nicht eine andere
mächtigere Wirkung entgegen ist. In jedem Fall erscheint
es, aber nicht Alles, was erscheint, wird vernommen, vielmehr
nur dann, wenn das Unterscheidende nicht angehalten wird
und nicht seine eigene Bewegung verfolgt. Wie wir nun
sagen, daß andere durch andere Leidenschaft leicht hinter-
gangen werden, so ist es der Schlafende durch den Schlaf und
durch die Bewegung der Sinnesorgane und Anderes, was
durch die Sinnesenergieen (aisthesis) vorgeht, so daß ihm das
wenig Aehnliche die Sache selbst scheint. Denn da im Schla-
fe das meiste Blut dem Ursprung (des Sinneswesens) zu-
geht, so gehen auch die Bewegungen, welche in dem Blute
enthalten sind, dorthin, andere der Möglichkeit (potentia)
andere der Wirklichkeit (actu). So zwar, daß von ihnen
die eine zuerst sich geltend macht und darauf eine andere.
Diese folgen denn so auf einander, wie die wiederbelebten

Schlafe die Phantasmen und die verbliebenen Bewegungen
bald vor der groͤßern genannten Bewegung, bald aber
auch erſcheinen verzerrte Geſichte und unangenehme Traͤu-
me, wie bei den Melancholiſchen, den Fiebernden und Trun-
kenen. Alle dieſe Leidenſchaften, weil ſie geiſtig ſind, be-
wirken viel Bewegung und Stoͤrung. Sobald aber das
Blut in den Gefaͤßen beruhigt wird und ſich vertheilt, er-
haͤlt ſich die von jeder Sinnesenergie (αἴσϑησις) entſtan-
dene Bewegung des Wahrgenommenen (αἴσϑημα) und macht
angenehme Traͤume und laͤßt etwas erſcheinen, ſichtbar
was von dem Geſicht verpflanzt wird, hoͤrbar, was von
dem Gehoͤr und aͤhnliches von den anderen Sinnesorganen.
Denn dadurch, daß die Bewegung bis zum Urſprung der
Empfindung gelangt, muß geſehen, gehoͤrt, empfun-
den werden. Eben wie das Geſicht manchmal erregt
ſcheint, wenn es nicht iſt, und wie eines als zwei erſcheint
dadurch, daß das Getaſte zwei ankuͤndigt. Denn allemal
vernimmt der Urſprung der Empfindung, was von jeder
Sinnesenergie beigebracht wird, wenn nicht eine andere
maͤchtigere Wirkung entgegen iſt. In jedem Fall erſcheint
es, aber nicht Alles, was erſcheint, wird vernommen, vielmehr
nur dann, wenn das Unterſcheidende nicht angehalten wird
und nicht ſeine eigene Bewegung verfolgt. Wie wir nun
ſagen, daß andere durch andere Leidenſchaft leicht hinter-
gangen werden, ſo iſt es der Schlafende durch den Schlaf und
durch die Bewegung der Sinnesorgane und Anderes, was
durch die Sinnesenergieen (αἴσϑησις) vorgeht, ſo daß ihm das
wenig Aehnliche die Sache ſelbſt ſcheint. Denn da im Schla-
fe das meiſte Blut dem Urſprung (des Sinnesweſens) zu-
geht, ſo gehen auch die Bewegungen, welche in dem Blute
enthalten ſind, dorthin, andere der Moͤglichkeit (potentia)
andere der Wirklichkeit (actu). So zwar, daß von ihnen
die eine zuerſt ſich geltend macht und darauf eine andere.
Dieſe folgen denn ſo auf einander, wie die wiederbelebten

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[114/0130] Schlafe die Phantasmen und die verbliebenen Bewegungen bald vor der groͤßern genannten Bewegung, bald aber auch erſcheinen verzerrte Geſichte und unangenehme Traͤu- me, wie bei den Melancholiſchen, den Fiebernden und Trun- kenen. Alle dieſe Leidenſchaften, weil ſie geiſtig ſind, be- wirken viel Bewegung und Stoͤrung. Sobald aber das Blut in den Gefaͤßen beruhigt wird und ſich vertheilt, er- haͤlt ſich die von jeder Sinnesenergie (αἴσϑησις) entſtan- dene Bewegung des Wahrgenommenen (αἴσϑημα) und macht angenehme Traͤume und laͤßt etwas erſcheinen, ſichtbar was von dem Geſicht verpflanzt wird, hoͤrbar, was von dem Gehoͤr und aͤhnliches von den anderen Sinnesorganen. Denn dadurch, daß die Bewegung bis zum Urſprung der Empfindung gelangt, muß geſehen, gehoͤrt, empfun- den werden. Eben wie das Geſicht manchmal erregt ſcheint, wenn es nicht iſt, und wie eines als zwei erſcheint dadurch, daß das Getaſte zwei ankuͤndigt. Denn allemal vernimmt der Urſprung der Empfindung, was von jeder Sinnesenergie beigebracht wird, wenn nicht eine andere maͤchtigere Wirkung entgegen iſt. In jedem Fall erſcheint es, aber nicht Alles, was erſcheint, wird vernommen, vielmehr nur dann, wenn das Unterſcheidende nicht angehalten wird und nicht ſeine eigene Bewegung verfolgt. Wie wir nun ſagen, daß andere durch andere Leidenſchaft leicht hinter- gangen werden, ſo iſt es der Schlafende durch den Schlaf und durch die Bewegung der Sinnesorgane und Anderes, was durch die Sinnesenergieen (αἴσϑησις) vorgeht, ſo daß ihm das wenig Aehnliche die Sache ſelbſt ſcheint. Denn da im Schla- fe das meiſte Blut dem Urſprung (des Sinnesweſens) zu- geht, ſo gehen auch die Bewegungen, welche in dem Blute enthalten ſind, dorthin, andere der Moͤglichkeit (potentia) andere der Wirklichkeit (actu). So zwar, daß von ihnen die eine zuerſt ſich geltend macht und darauf eine andere. Dieſe folgen denn ſo auf einander, wie die wiederbelebten

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/130>, abgerufen am 02.05.2024.