Rechenschaft gegeben. Was aber in Privatverhältnissen dem Gefühl überlassen werden darf, muß in Staatsangelegenhei- ten zum Bewußtseyn, zum Gesetz erhoben, und anerkannt werden, weil hier viele sich in Einem Gefühl vereinigen müs- sen, welches nur möglich ist, in wie fern es wirklich aus- gesprochen wird.
In früheren Zeiten ist es wohl von vielen gemeinschaftlich empfunden worden, daß alle Werthe und alle Wirksamkeiten im Staate nur mit Rücksicht auf das Heil des Ganzen, also mit Rücksicht auf ihre Richtung nach dem Mittelpuncte beur- theilt werden könnten. Aber: un peuple, qui a perdu ses moeurs, sagt der Marquis de Bonald, en voulant se donner des loix ecrites, s'est impose la necessite de tout ecrire, et meme les moeurs. -- Völker, welche das Gefühl des Ganzen und Oeffentlichen verloren haben, in- dem sie römisches Gesetz, römisches Privateigenthum und römischen Egoismus angenommen, können bey der Schrift- und Zahlbestimmung ihrer Privatverhältnisse nicht stehen blei- ben. Das Ganze bleibt in seiner tiefsten Verwirrung noch immer mächtiger als alle Einzelnen zusammen genommen: was früher mit unsichtbarer Gewalt als Sitte, als Gefühl das Ganze verband, muß nunmehr ausgesprochen, aufge- schrieben werden: reicht die Sprache nicht aus, so müssen die Urformen der Dinge selbst, es muß also die Lehre von die- sen Urformen, das heißt: die Geometrie, zu Hülfe genommen werden.
Es wird überhaupt in allen andern Wissenschaften etwas Aehnliches geschehen müssen. Denn, wiewohl die Sprache, in
Rechenſchaft gegeben. Was aber in Privatverhaͤltniſſen dem Gefuͤhl uͤberlaſſen werden darf, muß in Staatsangelegenhei- ten zum Bewußtſeyn, zum Geſetz erhoben, und anerkannt werden, weil hier viele ſich in Einem Gefuͤhl vereinigen muͤſ- ſen, welches nur moͤglich iſt, in wie fern es wirklich aus- geſprochen wird.
In fruͤheren Zeiten iſt es wohl von vielen gemeinſchaftlich empfunden worden, daß alle Werthe und alle Wirkſamkeiten im Staate nur mit Ruͤckſicht auf das Heil des Ganzen, alſo mit Ruͤckſicht auf ihre Richtung nach dem Mittelpuncte beur- theilt werden koͤnnten. Aber: un peuple, qui a perdu ses moeurs, ſagt der Marquis de Bonald, en voulant se donner des loix écrites, s’est imposé la necessité de tout ecrire, et même les moeurs. — Voͤlker, welche das Gefuͤhl des Ganzen und Oeffentlichen verloren haben, in- dem ſie roͤmiſches Geſetz, roͤmiſches Privateigenthum und roͤmiſchen Egoismus angenommen, koͤnnen bey der Schrift- und Zahlbeſtimmung ihrer Privatverhaͤltniſſe nicht ſtehen blei- ben. Das Ganze bleibt in ſeiner tiefſten Verwirrung noch immer maͤchtiger als alle Einzelnen zuſammen genommen: was fruͤher mit unſichtbarer Gewalt als Sitte, als Gefuͤhl das Ganze verband, muß nunmehr ausgeſprochen, aufge- ſchrieben werden: reicht die Sprache nicht aus, ſo muͤſſen die Urformen der Dinge ſelbſt, es muß alſo die Lehre von die- ſen Urformen, das heißt: die Geometrie, zu Huͤlfe genommen werden.
Es wird uͤberhaupt in allen andern Wiſſenſchaften etwas Aehnliches geſchehen muͤſſen. Denn, wiewohl die Sprache, in
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Rechenſchaft gegeben. Was aber in Privatverhaͤltniſſen dem
Gefuͤhl uͤberlaſſen werden darf, muß in Staatsangelegenhei-
ten zum Bewußtſeyn, zum Geſetz erhoben, und anerkannt
werden, weil hier viele ſich in Einem Gefuͤhl vereinigen muͤſ-
ſen, welches nur moͤglich iſt, in wie fern es wirklich aus-
geſprochen wird.
In fruͤheren Zeiten iſt es wohl von vielen gemeinſchaftlich
empfunden worden, daß alle Werthe und alle Wirkſamkeiten
im Staate nur mit Ruͤckſicht auf das Heil des Ganzen, alſo
mit Ruͤckſicht auf ihre Richtung nach dem Mittelpuncte beur-
theilt werden koͤnnten. Aber: un peuple, qui a perdu ses
moeurs, ſagt der Marquis de Bonald, en voulant se
donner des loix écrites, s’est imposé la necessité de
tout ecrire, et même les moeurs. — Voͤlker, welche
das Gefuͤhl des Ganzen und Oeffentlichen verloren haben, in-
dem ſie roͤmiſches Geſetz, roͤmiſches Privateigenthum und
roͤmiſchen Egoismus angenommen, koͤnnen bey der Schrift-
und Zahlbeſtimmung ihrer Privatverhaͤltniſſe nicht ſtehen blei-
ben. Das Ganze bleibt in ſeiner tiefſten Verwirrung noch
immer maͤchtiger als alle Einzelnen zuſammen genommen:
was fruͤher mit unſichtbarer Gewalt als Sitte, als Gefuͤhl
das Ganze verband, muß nunmehr ausgeſprochen, aufge-
ſchrieben werden: reicht die Sprache nicht aus, ſo muͤſſen
die Urformen der Dinge ſelbſt, es muß alſo die Lehre von die-
ſen Urformen, das heißt: die Geometrie, zu Huͤlfe genommen
werden.
Es wird uͤberhaupt in allen andern Wiſſenſchaften etwas
Aehnliches geſchehen muͤſſen. Denn, wiewohl die Sprache, in
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Müller, Adam Heinrich: Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien. Leipzig u. a., 1816. , S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_geld_1816/320>, abgerufen am 31.07.2024.
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