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Müller-Breslau, Heinrich: Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Leipzig, 1886.

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wickelte Satz von der Abgeleiteten der Formänderungsarbeit sowie der
aus diesem folgende Satz von der kleinsten Formänderungsarbeit stehen.*)
Den letzteren Satz gab bereits früher Menabrea in der Abhandlung:
"Nouveau principe sur la distribution des tensions dans les systemes
elastiques" [Comptes rendus 1858, I, S. 1056]**) und, ohne die Arbeiten
seiner Vorgänger zu kennen, Fränkel (1882) in der Zeitschrift des
Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover.

*) Wir können nicht umhin, an dieser Stelle ein abfälliges Urtheil zu
erwähnen, welches Herr Prof. Mohr in der Schrift: Beitrag zur Theorie
des Fachwerks
(im Civil-Ingenieur 1885) über die Castigliano'schen Sätze
ausspricht, und das sich auf die Behauptung stützt, es sei, obgleich zu rich-
tigen Ergebnissen führend, bei der Anwendung jener Sätze ein Irrthum, die
statisch nicht bestimmbaren Grössen X als die unabhängigen Veränderlichen
der Arbeit A aufzufassen, woraus dann u. A. gefolgert wird, es führe der --
zwar als richtig anerkannte -- Satz: d = [Formel 1] bei einem statisch unbestimm-
ten Fachwerke nicht zum Ziele.
Dabei hat Herr Mohr einmal übersehen, dass man, falls A auf das ganze
Fachwerk bezogen wird, und die X als Funktionen der Lasten aufgefasst wer-
den sollen, nur nöthig hat, bei der Ausführung der Differentiation die Be-
dingungen, denen die X genügen müssen und die auf verschiedenen Wegen
gewonnen werden können, zu berücksichtigen, um sofort zu erkennen, dass der
Werth d von den nach P gebildeten Differentialquotienten der Grössen X unab-
hängig ist; sodann aber scheint Herrn Mohr entgangen zu sein, dass der frag-
liche Satz für jeden beliebigen Theil des Fachwerks giltig ist, beispielsweise für
das statisch bestimmte Hauptnetz, an dem die Spannkräfte in den überzähligen
Stäben als äussere Kräfte anzubringen sind. Betrachtet man nun zunächst
den allgemeineren Fall, in welchem sämmtliche überzähligen Stabkräfte
und Auflagerkräfte X willkürliche, d. h. unabhängig veränderliche
Werthe besitzen und stellt mit Hilfe des Satzes d = [Formel 2] die Verschiebungen
der Knotenpunkte als Funktionen der Spannkräfte in den nothwendigen
Stäben dar, so erhält man für diese Verschiebungen Ausdrücke, welche für
alle endlichen Werthe der Kräfte X giltig sind, in die mithin auch diejenigen
besonderen Werthe X eingesetzt werden dürfen, die sich aus den Bedingungen
ergeben, an welche einzelne der dargestellten Verschiebungen gebunden sind.
Auf diese Weise gelangt man gleichzeitig -- und zwar lediglich mit Hilfe
des Satzes d = [Formel 3] -- zu den Elasticitätsgleichungen und zu den gesuchten
Verschiebungen; erstere lassen sich, falls die Auflagerkräfte bei der Form-
änderung keine Arbeit leisten, auch in dem Satze zusammenfassen: es müssen
die Grössen X die Formänderungsarbeit des Hauptnetzes, vermehrt um die
auf die überzähligen Stäbe sich beziehende Arbeit: [Formel 4] , zu einem Minimum
machen. -- In unserem Buche zogen wir es vor, beide Sätze Castigliano's aus
einer allgemeineren Arbeitsgleichung zu folgern; vergl. § 12.
**) Man sehe auch: Comptes rendus, 1884, S. 174.

wickelte Satz von der Abgeleiteten der Formänderungsarbeit sowie der
aus diesem folgende Satz von der kleinsten Formänderungsarbeit stehen.*)
Den letzteren Satz gab bereits früher Menabrea in der Abhandlung:
„Nouveau principe sur la distribution des tensions dans les systèmes
élastiques“ [Comptes rendus 1858, I, S. 1056]**) und, ohne die Arbeiten
seiner Vorgänger zu kennen, Fränkel (1882) in der Zeitschrift des
Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover.

*) Wir können nicht umhin, an dieser Stelle ein abfälliges Urtheil zu
erwähnen, welches Herr Prof. Mohr in der Schrift: Beitrag zur Theorie
des Fachwerks
(im Civil-Ingenieur 1885) über die Castigliano’schen Sätze
ausspricht, und das sich auf die Behauptung stützt, es sei, obgleich zu rich-
tigen Ergebnissen führend, bei der Anwendung jener Sätze ein Irrthum, die
statisch nicht bestimmbaren Grössen X als die unabhängigen Veränderlichen
der Arbeit A aufzufassen, woraus dann u. A. gefolgert wird, es führe der —
zwar als richtig anerkannte — Satz: δ = [Formel 1] bei einem statisch unbestimm-
ten Fachwerke nicht zum Ziele.
Dabei hat Herr Mohr einmal übersehen, dass man, falls A auf das ganze
Fachwerk bezogen wird, und die X als Funktionen der Lasten aufgefasst wer-
den sollen, nur nöthig hat, bei der Ausführung der Differentiation die Be-
dingungen, denen die X genügen müssen und die auf verschiedenen Wegen
gewonnen werden können, zu berücksichtigen, um sofort zu erkennen, dass der
Werth δ von den nach P gebildeten Differentialquotienten der Grössen X unab-
hängig ist; sodann aber scheint Herrn Mohr entgangen zu sein, dass der frag-
liche Satz für jeden beliebigen Theil des Fachwerks giltig ist, beispielsweise für
das statisch bestimmte Hauptnetz, an dem die Spannkräfte in den überzähligen
Stäben als äussere Kräfte anzubringen sind. Betrachtet man nun zunächst
den allgemeineren Fall, in welchem sämmtliche überzähligen Stabkräfte
und Auflagerkräfte X willkürliche, d. h. unabhängig veränderliche
Werthe besitzen und stellt mit Hilfe des Satzes δ = [Formel 2] die Verschiebungen
der Knotenpunkte als Funktionen der Spannkräfte in den nothwendigen
Stäben dar, so erhält man für diese Verschiebungen Ausdrücke, welche für
alle endlichen Werthe der Kräfte X giltig sind, in die mithin auch diejenigen
besonderen Werthe X eingesetzt werden dürfen, die sich aus den Bedingungen
ergeben, an welche einzelne der dargestellten Verschiebungen gebunden sind.
Auf diese Weise gelangt man gleichzeitig — und zwar lediglich mit Hilfe
des Satzes δ = [Formel 3] — zu den Elasticitätsgleichungen und zu den gesuchten
Verschiebungen; erstere lassen sich, falls die Auflagerkräfte bei der Form-
änderung keine Arbeit leisten, auch in dem Satze zusammenfassen: es müssen
die Grössen X die Formänderungsarbeit des Hauptnetzes, vermehrt um die
auf die überzähligen Stäbe sich beziehende Arbeit: [Formel 4] , zu einem Minimum
machen. — In unserem Buche zogen wir es vor, beide Sätze Castigliano’s aus
einer allgemeineren Arbeitsgleichung zu folgern; vergl. § 12.
**) Man sehe auch: Comptes rendus, 1884, S. 174.
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Zitationshilfe: Müller-Breslau, Heinrich: Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Leipzig, 1886, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_festigkeitslehre_1886/200>, abgerufen am 02.05.2024.