Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller-Breslau, Heinrich: Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Leipzig, 1886.

Bild:
<< vorherige Seite

Navier*) aus dem Principe der virtuellen Verschiebungen gefolgerte
allgemeine und einzige Bedingung für das Gleichgewicht zwischen den
inneren und äusseren Kräften eines elastischen Körpers anwendet und
in diese an Stelle der virtuellen die wirklichen elastischen Verschiebungen
einführt. Indem er hierbei die Annahme eines spannungslosen Anfangs-
zustandes macht und voraussetzt, dass in jedem Punkte des Körpers
die anfängliche Temperatur herrscht, erhält er die von ihm später zur
Berechnung der Durchbiegung von Federn benutzte Gleichung:
1/2 S Q r = A.**)

Lame nennt diese Gleichung in seinen "Lecons sur la theorie
mathematique de l'elasticite des corps solides" (Paris 1852 und 1866)
das Clapeyron'sche Gesetz; er erläutert dasselbe an mehreren Bei-
spielen und hebt dessen Wichtigkeit für die Statik der Bauwerke hervor.

Im Jahre 1864 leitet Clerk Maxwell in der im Philosophical
Magazine, Band 27, Seite 294 abgedruckten Abhandlung: "On the cal-
culation of the equilibrium and stiffness of frames" mittelst der Clapey-
ron'schen Gleichung das im § 10 dieses Buches der "Maxwell'sche Lehr-
satz" genannte Gesetz ab und entwickelt mit Hilfe desselben eine all-
gemeine Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks. Er setzt hierbei
einen spannungslosen Anfangszustand voraus und lässt Temperatur-
änderungen unberücksichtigt.

Die erste vollständige Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks
gab, ebenfalls auf Grund des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen,
Mohr in seiner bahnbrechenden Arbeit: "Beitrag zur Theorie des Fach-
werks" (Zeitschr. des Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover).***)
In dieser Abhandlung findet sich auch der in unserem Buche gegebene
Beweis für den Maxwell'schen Satz sowie die Benutzung dieses Satzes
zur Bestimmung der Einflusslinie für die Verschiebung eines Fachwerk-
Knotenpunktes. Mohr stellte auch zuerst die elastische Linie des geraden
Stabes und die Biegungspolygone der Fachwerke mit Hilfe des Seil-
polygons dar.

Besonders gefördert wurde die Festigkeitslehre und namentlich die
Theorie der statisch unbestimmten Konstruktionen durch das hervor-
ragende Werk des leider so früh verstorbenen italienischen Ingenieurs
Castigliano: "Theorie de l'equilibre des systemes elastiques", welches
eine Fülle schöner Anwendungen auf die Statik der Bauwerke enthält,
und an dessen Spitze der mit Hilfe der Clapeyron'schen Gleichung ent-

*) Mem. de l'acad. des sciences 1827, Seite 388.
**) Vergl. die Anmerkung auf Seite 175 dieses Buches.
***) 1874--1875.

Navier*) aus dem Principe der virtuellen Verschiebungen gefolgerte
allgemeine und einzige Bedingung für das Gleichgewicht zwischen den
inneren und äusseren Kräften eines elastischen Körpers anwendet und
in diese an Stelle der virtuellen die wirklichen elastischen Verschiebungen
einführt. Indem er hierbei die Annahme eines spannungslosen Anfangs-
zustandes macht und voraussetzt, dass in jedem Punkte des Körpers
die anfängliche Temperatur herrscht, erhält er die von ihm später zur
Berechnung der Durchbiegung von Federn benutzte Gleichung:
½ Σ Q r = A.**)

Lamé nennt diese Gleichung in seinen „Leçons sur la théorie
mathématique de l’élasticité des corps solides“ (Paris 1852 und 1866)
das Clapeyron’sche Gesetz; er erläutert dasselbe an mehreren Bei-
spielen und hebt dessen Wichtigkeit für die Statik der Bauwerke hervor.

Im Jahre 1864 leitet Clerk Maxwell in der im Philosophical
Magazine, Band 27, Seite 294 abgedruckten Abhandlung: „On the cal-
culation of the equilibrium and stiffness of frames“ mittelst der Clapey-
ron’schen Gleichung das im § 10 dieses Buches der „Maxwell’sche Lehr-
satz“ genannte Gesetz ab und entwickelt mit Hilfe desselben eine all-
gemeine Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks. Er setzt hierbei
einen spannungslosen Anfangszustand voraus und lässt Temperatur-
änderungen unberücksichtigt.

Die erste vollständige Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks
gab, ebenfalls auf Grund des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen,
Mohr in seiner bahnbrechenden Arbeit: „Beitrag zur Theorie des Fach-
werks“ (Zeitschr. des Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover).***)
In dieser Abhandlung findet sich auch der in unserem Buche gegebene
Beweis für den Maxwell’schen Satz sowie die Benutzung dieses Satzes
zur Bestimmung der Einflusslinie für die Verschiebung eines Fachwerk-
Knotenpunktes. Mohr stellte auch zuerst die elastische Linie des geraden
Stabes und die Biegungspolygone der Fachwerke mit Hilfe des Seil-
polygons dar.

Besonders gefördert wurde die Festigkeitslehre und namentlich die
Theorie der statisch unbestimmten Konstruktionen durch das hervor-
ragende Werk des leider so früh verstorbenen italienischen Ingenieurs
Castigliano: „Theorie de l’équilibre des systèmes élastiques“, welches
eine Fülle schöner Anwendungen auf die Statik der Bauwerke enthält,
und an dessen Spitze der mit Hilfe der Clapeyron’schen Gleichung ent-

*) Mém. de l’acad. des sciences 1827, Seite 388.
**) Vergl. die Anmerkung auf Seite 175 dieses Buches.
***) 1874—1875.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0199" n="187"/><hi rendition="#g">Navier</hi><note place="foot" n="*)">Mém. de l&#x2019;acad. des sciences 1827, Seite 388.</note> aus dem Principe der virtuellen Verschiebungen gefolgerte<lb/>
allgemeine und einzige Bedingung für das Gleichgewicht zwischen den<lb/>
inneren und äusseren Kräften eines elastischen Körpers anwendet und<lb/>
in diese an Stelle der virtuellen die wirklichen elastischen Verschiebungen<lb/>
einführt. Indem er hierbei die Annahme eines spannungslosen Anfangs-<lb/>
zustandes macht und voraussetzt, dass in jedem Punkte des Körpers<lb/>
die anfängliche Temperatur herrscht, erhält er die von ihm später zur<lb/>
Berechnung der Durchbiegung von Federn benutzte Gleichung:<lb/><hi rendition="#c">½ &#x03A3; <hi rendition="#i">Q r</hi> = <hi rendition="#i">A</hi>.<note place="foot" n="**)">Vergl. die Anmerkung auf Seite 175 dieses Buches.</note></hi></p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Lamé</hi> nennt diese Gleichung in seinen &#x201E;Leçons sur la théorie<lb/>
mathématique de l&#x2019;élasticité des corps solides&#x201C; (Paris 1852 und 1866)<lb/>
das <hi rendition="#g">Clapeyron&#x2019;sche Gesetz</hi>; er erläutert dasselbe an mehreren Bei-<lb/>
spielen und hebt dessen Wichtigkeit für die Statik der Bauwerke hervor.</p><lb/>
          <p>Im Jahre 1864 leitet <hi rendition="#g">Clerk Maxwell</hi> in der im Philosophical<lb/>
Magazine, Band 27, Seite 294 abgedruckten Abhandlung: &#x201E;On the cal-<lb/>
culation of the equilibrium and stiffness of frames&#x201C; mittelst der Clapey-<lb/>
ron&#x2019;schen Gleichung das im § 10 dieses Buches der &#x201E;Maxwell&#x2019;sche Lehr-<lb/>
satz&#x201C; genannte Gesetz ab und entwickelt mit Hilfe desselben eine all-<lb/>
gemeine Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks. Er setzt hierbei<lb/>
einen spannungslosen Anfangszustand voraus und lässt Temperatur-<lb/>
änderungen unberücksichtigt.</p><lb/>
          <p>Die erste vollständige Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks<lb/>
gab, ebenfalls auf Grund des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen,<lb/><hi rendition="#g">Mohr</hi> in seiner bahnbrechenden Arbeit: &#x201E;Beitrag zur Theorie des Fach-<lb/>
werks&#x201C; (Zeitschr. des Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover).<note place="foot" n="***)">1874&#x2014;1875.</note><lb/>
In dieser Abhandlung findet sich auch der in unserem Buche gegebene<lb/>
Beweis für den Maxwell&#x2019;schen Satz sowie die Benutzung dieses Satzes<lb/>
zur Bestimmung der Einflusslinie für die Verschiebung eines Fachwerk-<lb/>
Knotenpunktes. <hi rendition="#g">Mohr</hi> stellte auch zuerst die elastische Linie des geraden<lb/>
Stabes und die Biegungspolygone der Fachwerke mit Hilfe des Seil-<lb/>
polygons dar.</p><lb/>
          <p>Besonders gefördert wurde die Festigkeitslehre und namentlich die<lb/>
Theorie der statisch unbestimmten Konstruktionen durch das hervor-<lb/>
ragende Werk des leider so früh verstorbenen italienischen Ingenieurs<lb/><hi rendition="#g">Castigliano</hi>: &#x201E;Theorie de l&#x2019;équilibre des systèmes élastiques&#x201C;, welches<lb/>
eine Fülle schöner Anwendungen auf die Statik der Bauwerke enthält,<lb/>
und an dessen Spitze der mit Hilfe der Clapeyron&#x2019;schen Gleichung ent-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[187/0199] Navier *) aus dem Principe der virtuellen Verschiebungen gefolgerte allgemeine und einzige Bedingung für das Gleichgewicht zwischen den inneren und äusseren Kräften eines elastischen Körpers anwendet und in diese an Stelle der virtuellen die wirklichen elastischen Verschiebungen einführt. Indem er hierbei die Annahme eines spannungslosen Anfangs- zustandes macht und voraussetzt, dass in jedem Punkte des Körpers die anfängliche Temperatur herrscht, erhält er die von ihm später zur Berechnung der Durchbiegung von Federn benutzte Gleichung: ½ Σ Q r = A. **) Lamé nennt diese Gleichung in seinen „Leçons sur la théorie mathématique de l’élasticité des corps solides“ (Paris 1852 und 1866) das Clapeyron’sche Gesetz; er erläutert dasselbe an mehreren Bei- spielen und hebt dessen Wichtigkeit für die Statik der Bauwerke hervor. Im Jahre 1864 leitet Clerk Maxwell in der im Philosophical Magazine, Band 27, Seite 294 abgedruckten Abhandlung: „On the cal- culation of the equilibrium and stiffness of frames“ mittelst der Clapey- ron’schen Gleichung das im § 10 dieses Buches der „Maxwell’sche Lehr- satz“ genannte Gesetz ab und entwickelt mit Hilfe desselben eine all- gemeine Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks. Er setzt hierbei einen spannungslosen Anfangszustand voraus und lässt Temperatur- änderungen unberücksichtigt. Die erste vollständige Theorie des statisch unbestimmten Fachwerks gab, ebenfalls auf Grund des Gesetzes der virtuellen Verschiebungen, Mohr in seiner bahnbrechenden Arbeit: „Beitrag zur Theorie des Fach- werks“ (Zeitschr. des Architekten- u. Ingenieur-Vereins zu Hannover). ***) In dieser Abhandlung findet sich auch der in unserem Buche gegebene Beweis für den Maxwell’schen Satz sowie die Benutzung dieses Satzes zur Bestimmung der Einflusslinie für die Verschiebung eines Fachwerk- Knotenpunktes. Mohr stellte auch zuerst die elastische Linie des geraden Stabes und die Biegungspolygone der Fachwerke mit Hilfe des Seil- polygons dar. Besonders gefördert wurde die Festigkeitslehre und namentlich die Theorie der statisch unbestimmten Konstruktionen durch das hervor- ragende Werk des leider so früh verstorbenen italienischen Ingenieurs Castigliano: „Theorie de l’équilibre des systèmes élastiques“, welches eine Fülle schöner Anwendungen auf die Statik der Bauwerke enthält, und an dessen Spitze der mit Hilfe der Clapeyron’schen Gleichung ent- *) Mém. de l’acad. des sciences 1827, Seite 388. **) Vergl. die Anmerkung auf Seite 175 dieses Buches. ***) 1874—1875.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_festigkeitslehre_1886
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_festigkeitslehre_1886/199
Zitationshilfe: Müller-Breslau, Heinrich: Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen. Leipzig, 1886, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_festigkeitslehre_1886/199>, abgerufen am 04.12.2024.