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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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trat er in den hellen Morgen hinaus, der ihn mit einem scharfen Winde ermunternd anblies, und die Glocken, welche zu der Frühmesse läuteten, klangen ihm wie Stimmen der Engel aus den Wolken, einladend und begeisternd zu seinem heiligen Werke. Als er an der Kirche Santa Trinita de' Monti vorübergehen wollte, zog es ihn wie mit unsichtbaren Händen in das Innere des Tempels hinein. Ein Priester sang an einem Nebenaltare die kleine Messe, und zwei Bettler knieeten hinter ihm auf dessen Stufen. Arthur war nicht vermögend, der heiligen Handlung als neugieriger Zuschauer beizuwohnen. Er griff in das Weihwasser hinein, besprengte sich Brust und Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes und warf sich zwischen den Bettlern nieder. Ein inbrünstiges Gebet um den Beistand des heiligen Geistes auf dem Wege, den er eben antreten wollte, flog von seinen Lippen empor, und er wähnte sich in seinem Herzen wunderbar erhört zu fühlen, als er wieder aufstand und sich zum zweiten Male aus der geweiheten Schale benetzte.

Wie kann eine Kirche ein Haus Gottes sein, dachte er im Heraustreten bei sich selbst, wenn sie den Menschen nicht zu allen Stunden offen steht? Ist doch Gottes Herz uns immer aufgeschlossen, so oft wir das Verlangen fühlen, uns ihm zu nahen: warum soll denn sein Haus uns nur dann geöffnet werden, wann der Priester fertig ist mit seiner Predigt und der Cantor mit seiner Orgel? Welche selige Stärk-

trat er in den hellen Morgen hinaus, der ihn mit einem scharfen Winde ermunternd anblies, und die Glocken, welche zu der Frühmesse läuteten, klangen ihm wie Stimmen der Engel aus den Wolken, einladend und begeisternd zu seinem heiligen Werke. Als er an der Kirche Santa Trinita de' Monti vorübergehen wollte, zog es ihn wie mit unsichtbaren Händen in das Innere des Tempels hinein. Ein Priester sang an einem Nebenaltare die kleine Messe, und zwei Bettler knieeten hinter ihm auf dessen Stufen. Arthur war nicht vermögend, der heiligen Handlung als neugieriger Zuschauer beizuwohnen. Er griff in das Weihwasser hinein, besprengte sich Brust und Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes und warf sich zwischen den Bettlern nieder. Ein inbrünstiges Gebet um den Beistand des heiligen Geistes auf dem Wege, den er eben antreten wollte, flog von seinen Lippen empor, und er wähnte sich in seinem Herzen wunderbar erhört zu fühlen, als er wieder aufstand und sich zum zweiten Male aus der geweiheten Schale benetzte.

Wie kann eine Kirche ein Haus Gottes sein, dachte er im Heraustreten bei sich selbst, wenn sie den Menschen nicht zu allen Stunden offen steht? Ist doch Gottes Herz uns immer aufgeschlossen, so oft wir das Verlangen fühlen, uns ihm zu nahen: warum soll denn sein Haus uns nur dann geöffnet werden, wann der Priester fertig ist mit seiner Predigt und der Cantor mit seiner Orgel? Welche selige Stärk-

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[0136] trat er in den hellen Morgen hinaus, der ihn mit einem scharfen Winde ermunternd anblies, und die Glocken, welche zu der Frühmesse läuteten, klangen ihm wie Stimmen der Engel aus den Wolken, einladend und begeisternd zu seinem heiligen Werke. Als er an der Kirche Santa Trinita de' Monti vorübergehen wollte, zog es ihn wie mit unsichtbaren Händen in das Innere des Tempels hinein. Ein Priester sang an einem Nebenaltare die kleine Messe, und zwei Bettler knieeten hinter ihm auf dessen Stufen. Arthur war nicht vermögend, der heiligen Handlung als neugieriger Zuschauer beizuwohnen. Er griff in das Weihwasser hinein, besprengte sich Brust und Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes und warf sich zwischen den Bettlern nieder. Ein inbrünstiges Gebet um den Beistand des heiligen Geistes auf dem Wege, den er eben antreten wollte, flog von seinen Lippen empor, und er wähnte sich in seinem Herzen wunderbar erhört zu fühlen, als er wieder aufstand und sich zum zweiten Male aus der geweiheten Schale benetzte. Wie kann eine Kirche ein Haus Gottes sein, dachte er im Heraustreten bei sich selbst, wenn sie den Menschen nicht zu allen Stunden offen steht? Ist doch Gottes Herz uns immer aufgeschlossen, so oft wir das Verlangen fühlen, uns ihm zu nahen: warum soll denn sein Haus uns nur dann geöffnet werden, wann der Priester fertig ist mit seiner Predigt und der Cantor mit seiner Orgel? Welche selige Stärk-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/136>, abgerufen am 05.05.2024.