Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

das brachte ihn nach und nach zu einem Grade
der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flus¬
ses führte, welcher durch einen Theil der Stadt
ging, wo dasselbe mit keinem Geländer versehen
war. --

Hier stand er zwischen dem schrecklich¬
sten Lebensüberdruß, und der instinktmäßt¬
gen unerklärlichen Begierde fortzuathmen,
kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬
lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬
stamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag.
Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der
Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis
das Gefühl einer fieberhaften Kälte, und das
Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst
brachte, und ihm zufälliger Weise einfiel, daß er
den Abend bei seinem Wirth dem Fleischer, fri¬
sche Wurst zu essen bekommen würde -- und
daß die Stube sehr warm geheitzt seyn würde. --
Diese ganz sinnlichen und thierischen Vorstel¬
lungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue
wieder an -- er vergaß sich, so wie er sich nach
der Hinrichtung der Missethäter vergessen hatte,
ganz als Mensch, und kehrte in seinen Ge¬

das brachte ihn nach und nach zu einem Grade
der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Fluſ¬
ſes fuͤhrte, welcher durch einen Theil der Stadt
ging, wo daſſelbe mit keinem Gelaͤnder verſehen
war. —

Hier ſtand er zwiſchen dem ſchrecklich¬
ſten Lebensuͤberdruß, und der inſtinktmaͤßt¬
gen unerklaͤrlichen Begierde fortzuathmen,
kaͤmpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬
lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬
ſtamm niederſank, der nicht weit vom Ufer lag.
Hier ließ er ſich noch eine Weile gleichſam der
Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis
das Gefuͤhl einer fieberhaften Kaͤlte, und das
Klappern ſeiner Zaͤhne ihn wieder zu ſich ſelbſt
brachte, und ihm zufaͤlliger Weiſe einfiel, daß er
den Abend bei ſeinem Wirth dem Fleiſcher, fri¬
ſche Wurſt zu eſſen bekommen wuͤrde — und
daß die Stube ſehr warm geheitzt ſeyn wuͤrde. —
Dieſe ganz ſinnlichen und thieriſchen Vorſtel¬
lungen friſchten die Lebensluſt in ihm aufs neue
wieder an — er vergaß ſich, ſo wie er ſich nach
der Hinrichtung der Miſſethaͤter vergeſſen hatte,
ganz als Menſch, und kehrte in ſeinen Ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0056" n="46"/>
das brachte ihn nach und nach zu einem Grade<lb/>
der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flu&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;es fu&#x0364;hrte, welcher durch einen Theil der Stadt<lb/>
ging, wo da&#x017F;&#x017F;elbe mit keinem Gela&#x0364;nder ver&#x017F;ehen<lb/>
war. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Hier &#x017F;tand er zwi&#x017F;chen dem &#x017F;chrecklich¬<lb/>
&#x017F;ten Lebensu&#x0364;berdruß, und der in&#x017F;tinktma&#x0364;ßt¬<lb/>
gen unerkla&#x0364;rlichen Begierde fortzuathmen,<lb/>
ka&#x0364;mpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬<lb/>
lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬<lb/>
&#x017F;tamm nieder&#x017F;ank, der nicht weit vom Ufer lag.<lb/>
Hier ließ er &#x017F;ich noch eine Weile gleich&#x017F;am der<lb/>
Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis<lb/>
das Gefu&#x0364;hl einer fieberhaften Ka&#x0364;lte, und das<lb/>
Klappern &#x017F;einer Za&#x0364;hne ihn wieder zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
brachte, und ihm zufa&#x0364;lliger Wei&#x017F;e einfiel, daß er<lb/>
den Abend bei &#x017F;einem Wirth dem Flei&#x017F;cher, fri¬<lb/>
&#x017F;che Wur&#x017F;t zu e&#x017F;&#x017F;en bekommen wu&#x0364;rde &#x2014; und<lb/>
daß die Stube &#x017F;ehr warm geheitzt &#x017F;eyn wu&#x0364;rde. &#x2014;<lb/>
Die&#x017F;e ganz &#x017F;innlichen und thieri&#x017F;chen Vor&#x017F;tel¬<lb/>
lungen fri&#x017F;chten die Lebenslu&#x017F;t in ihm aufs neue<lb/>
wieder an &#x2014; er vergaß &#x017F;ich, &#x017F;o wie er &#x017F;ich nach<lb/>
der Hinrichtung der Mi&#x017F;&#x017F;etha&#x0364;ter verge&#x017F;&#x017F;en hatte,<lb/>
ganz als Men&#x017F;ch, und kehrte in &#x017F;einen Ge¬<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0056] das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Fluſ¬ ſes fuͤhrte, welcher durch einen Theil der Stadt ging, wo daſſelbe mit keinem Gelaͤnder verſehen war. — Hier ſtand er zwiſchen dem ſchrecklich¬ ſten Lebensuͤberdruß, und der inſtinktmaͤßt¬ gen unerklaͤrlichen Begierde fortzuathmen, kaͤmpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬ lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬ ſtamm niederſank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er ſich noch eine Weile gleichſam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefuͤhl einer fieberhaften Kaͤlte, und das Klappern ſeiner Zaͤhne ihn wieder zu ſich ſelbſt brachte, und ihm zufaͤlliger Weiſe einfiel, daß er den Abend bei ſeinem Wirth dem Fleiſcher, fri¬ ſche Wurſt zu eſſen bekommen wuͤrde — und daß die Stube ſehr warm geheitzt ſeyn wuͤrde. — Dieſe ganz ſinnlichen und thieriſchen Vorſtel¬ lungen friſchten die Lebensluſt in ihm aufs neue wieder an — er vergaß ſich, ſo wie er ſich nach der Hinrichtung der Miſſethaͤter vergeſſen hatte, ganz als Menſch, und kehrte in ſeinen Ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/56
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/56>, abgerufen am 21.11.2024.