welchen -- Mit diesen Gedanken schlief er ein -- und da er am Morgen erwachte, so war es wieder so leer in seinem Herzen; die Aussicht auf den Tag war so trübe und öde; alle seine äußern Verhältnisse waren so unwiederbringlich zerrüttet; ein unüberwindlicher Lebensüberdruß trat an die Stelle der gestrigen Empfindung, womit er einschlief -- er suchte sich vor sich selbst zu retten, und machte den Anfang, tugendhaft zu seyn, damit daß er auf den Boden ging, und in Schlachtordnung gestellte Kirschkerne zerschmet¬ terte. --
Dieß nun zu unterlassen, und statt dessen etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine Ekloge zu lesen, wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen -- aber auf die¬ sen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmüthigen Entschlusse nicht gefaßt gemacht.
Wenn man die Begriffe der Menschen von der Tugend prüfen wollte, so würden sie vielleicht bei den meisten auf eben solche dunkle und verworre¬ ne Vorstellungen herauslaufen -- und man sieht
welchen — Mit dieſen Gedanken ſchlief er ein — und da er am Morgen erwachte, ſo war es wieder ſo leer in ſeinem Herzen; die Ausſicht auf den Tag war ſo truͤbe und oͤde; alle ſeine aͤußern Verhaͤltniſſe waren ſo unwiederbringlich zerruͤttet; ein unuͤberwindlicher Lebensuͤberdruß trat an die Stelle der geſtrigen Empfindung, womit er einſchlief — er ſuchte ſich vor ſich ſelbſt zu retten, und machte den Anfang, tugendhaft zu ſeyn, damit daß er auf den Boden ging, und in Schlachtordnung geſtellte Kirſchkerne zerſchmet¬ terte. —
Dieß nun zu unterlaſſen, und ſtatt deſſen etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine Ekloge zu leſen, waͤre der eigentliche Anfang zur Ausuͤbung der Tugend geweſen — aber auf die¬ ſen zu geringfuͤgig ſcheinenden Fall hatte er ſich bei ſeinem heldenmuͤthigen Entſchluſſe nicht gefaßt gemacht.
Wenn man die Begriffe der Menſchen von der Tugend pruͤfen wollte, ſo wuͤrden ſie vielleicht bei den meiſten auf eben ſolche dunkle und verworre¬ ne Vorſtellungen herauslaufen — und man ſieht
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welchen — Mit dieſen Gedanken ſchlief er ein
— und da er am Morgen erwachte, ſo war es
wieder ſo leer in ſeinem Herzen; die Ausſicht
auf den Tag war ſo truͤbe und oͤde; alle ſeine
aͤußern Verhaͤltniſſe waren ſo unwiederbringlich
zerruͤttet; ein unuͤberwindlicher Lebensuͤberdruß
trat an die Stelle der geſtrigen Empfindung,
womit er einſchlief — er ſuchte ſich vor ſich ſelbſt zu
retten, und machte den Anfang, tugendhaft zu
ſeyn, damit daß er auf den Boden ging, und in
Schlachtordnung geſtellte Kirſchkerne zerſchmet¬
terte. —
Dieß nun zu unterlaſſen, und ſtatt deſſen
etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine
Ekloge zu leſen, waͤre der eigentliche Anfang zur
Ausuͤbung der Tugend geweſen — aber auf die¬
ſen zu geringfuͤgig ſcheinenden Fall hatte er
ſich bei ſeinem heldenmuͤthigen Entſchluſſe nicht
gefaßt gemacht.
Wenn man die Begriffe der Menſchen von der
Tugend pruͤfen wollte, ſo wuͤrden ſie vielleicht bei
den meiſten auf eben ſolche dunkle und verworre¬
ne Vorſtellungen herauslaufen — und man ſieht
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/195>, abgerufen am 16.02.2025.
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