Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

fühlte zum erstenmale die wunderbare Einschrän¬
kung, die seine damalige Existenz von der gegen¬
wärtigen beinahe so verschieden machte, wie das
Daseyn vom Nichtseyn.

Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er
seiner Mutter nach, und Nähe und Ferne, Enge
und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch
seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt
kein Federzug; tausendmal ist sie wieder in seiner
Seele, aber nie mit der ersten Stärke, erwacht.

Wie groß ist die Seligkeit der Einschränkung,
die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen!
Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in ei¬
nem stürmischen Meere: wohl dem, der in ihrem
Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine
Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe
dem, der von unglücklicher Neugier getrieben,
sich über dies dämmernde Gebirge hinauswagt,
das wohlthätig seinen Horizont umschränkt.

Er wird auf einer wilden stürmischen See
von Unruh und Zweifel hin und her getrieben,
sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne,
und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher
wohnte, hat alle seine Reize für ihn verlohren.

D

fuͤhlte zum erſtenmale die wunderbare Einſchraͤn¬
kung, die ſeine damalige Exiſtenz von der gegen¬
waͤrtigen beinahe ſo verſchieden machte, wie das
Daſeyn vom Nichtſeyn.

Wo mag jetzt wohl Julchen ſeyn? dachte er
ſeiner Mutter nach, und Naͤhe und Ferne, Enge
und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch
ſeine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt
kein Federzug; tauſendmal iſt ſie wieder in ſeiner
Seele, aber nie mit der erſten Staͤrke, erwacht.

Wie groß iſt die Seligkeit der Einſchraͤnkung,
die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen ſuchen!
Sie iſt wie ein kleines gluͤckliches Eiland in ei¬
nem ſtuͤrmiſchen Meere: wohl dem, der in ihrem
Schooße ſicher ſchlummern kann, ihn weckt keine
Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe
dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben,
ſich uͤber dies daͤmmernde Gebirge hinauswagt,
das wohlthaͤtig ſeinen Horizont umſchraͤnkt.

Er wird auf einer wilden ſtuͤrmiſchen See
von Unruh und Zweifel hin und her getrieben,
ſucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne,
und ſein kleines Eiland, auf dem er ſo ſicher
wohnte, hat alle ſeine Reize fuͤr ihn verlohren.

D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0059" n="49"/>
fu&#x0364;hlte zum er&#x017F;tenmale die wunderbare Ein&#x017F;chra&#x0364;<lb/>
kung, die &#x017F;eine damalige Exi&#x017F;tenz von der gegen¬<lb/>
wa&#x0364;rtigen beinahe &#x017F;o ver&#x017F;chieden machte, wie das<lb/>
Da&#x017F;eyn vom Nicht&#x017F;eyn.</p><lb/>
      <p>Wo mag jetzt wohl Julchen &#x017F;eyn? dachte er<lb/>
&#x017F;einer Mutter nach, und Na&#x0364;he und Ferne, Enge<lb/>
und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch<lb/>
&#x017F;eine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt<lb/>
kein Federzug; tau&#x017F;endmal i&#x017F;t &#x017F;ie wieder in &#x017F;einer<lb/>
Seele, aber nie mit der er&#x017F;ten Sta&#x0364;rke, erwacht.</p><lb/>
      <p>Wie groß i&#x017F;t die Seligkeit der Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung,<lb/>
die wir doch aus allen Kra&#x0364;ften zu fliehen &#x017F;uchen!<lb/>
Sie i&#x017F;t wie ein kleines glu&#x0364;ckliches Eiland in ei¬<lb/>
nem &#x017F;tu&#x0364;rmi&#x017F;chen Meere: wohl dem, der in ihrem<lb/>
Schooße &#x017F;icher &#x017F;chlummern kann, ihn weckt keine<lb/>
Gefahr, ihm drohen keine Stu&#x0364;rme. Aber wehe<lb/>
dem, der von unglu&#x0364;cklicher Neugier getrieben,<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;ber dies da&#x0364;mmernde Gebirge hinauswagt,<lb/>
das wohltha&#x0364;tig &#x017F;einen Horizont um&#x017F;chra&#x0364;nkt.</p><lb/>
      <p>Er wird auf einer wilden &#x017F;tu&#x0364;rmi&#x017F;chen See<lb/>
von Unruh und Zweifel hin und her getrieben,<lb/>
&#x017F;ucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne,<lb/>
und &#x017F;ein kleines Eiland, auf dem er &#x017F;o &#x017F;icher<lb/>
wohnte, hat alle &#x017F;eine Reize fu&#x0364;r ihn verlohren.</p><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">D<lb/></fw>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0059] fuͤhlte zum erſtenmale die wunderbare Einſchraͤn¬ kung, die ſeine damalige Exiſtenz von der gegen¬ waͤrtigen beinahe ſo verſchieden machte, wie das Daſeyn vom Nichtſeyn. Wo mag jetzt wohl Julchen ſeyn? dachte er ſeiner Mutter nach, und Naͤhe und Ferne, Enge und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch ſeine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug; tauſendmal iſt ſie wieder in ſeiner Seele, aber nie mit der erſten Staͤrke, erwacht. Wie groß iſt die Seligkeit der Einſchraͤnkung, die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen ſuchen! Sie iſt wie ein kleines gluͤckliches Eiland in ei¬ nem ſtuͤrmiſchen Meere: wohl dem, der in ihrem Schooße ſicher ſchlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben, ſich uͤber dies daͤmmernde Gebirge hinauswagt, das wohlthaͤtig ſeinen Horizont umſchraͤnkt. Er wird auf einer wilden ſtuͤrmiſchen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, ſucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und ſein kleines Eiland, auf dem er ſo ſicher wohnte, hat alle ſeine Reize fuͤr ihn verlohren. D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/59
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/59>, abgerufen am 17.06.2024.