Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen,
und ihm sein Antheil hingelegt wurde, ohne da¬
bei zu sagen, es sey der seinige, so ließ er ihn
lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn
bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Un¬
rechtleidens zu empfinden, und sagen zu können,
alle andre haben etwas, und ich nichts bekom¬
men! Da er eingebildetes Unrecht schon so stark
empfand, um so viel stärker mußte er das wirk¬
liche empfinden. Und gewiß ist wohl bei nie¬
manden die Empfindung des Unrechts stärker,
als bei Kindern, und niemanden kann auch
leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle
Pädagogen täglich und stündlich beherzigen
sollten.

Oft konnte Anton stundenlang nachdenken,
und Gründe gegen Gründe auf das genaueste
abwägen, ob eine Züchtigung von seinem Vater
recht oder unrecht sey?

Jetzt genoß er in seinem eilften Jahre zum
erstenmale das unaussprechliche Vergnügen ver¬
botner Lektüre.

Sein Vater war ein abgesagter Feind von
allen Romanen, und drohete ein solches Buch

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen,
und ihm ſein Antheil hingelegt wurde, ohne da¬
bei zu ſagen, es ſey der ſeinige, ſo ließ er ihn
lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fuͤr ihn
beſtimmt war, um nur die Suͤßigkeit des Un¬
rechtleidens zu empfinden, und ſagen zu koͤnnen,
alle andre haben etwas, und ich nichts bekom¬
men! Da er eingebildetes Unrecht ſchon ſo ſtark
empfand, um ſo viel ſtaͤrker mußte er das wirk¬
liche empfinden. Und gewiß iſt wohl bei nie¬
manden die Empfindung des Unrechts ſtaͤrker,
als bei Kindern, und niemanden kann auch
leichter Unrecht geſchehen; ein Satz, den alle
Paͤdagogen taͤglich und ſtuͤndlich beherzigen
ſollten.

Oft konnte Anton ſtundenlang nachdenken,
und Gruͤnde gegen Gruͤnde auf das genaueſte
abwaͤgen, ob eine Zuͤchtigung von ſeinem Vater
recht oder unrecht ſey?

Jetzt genoß er in ſeinem eilften Jahre zum
erſtenmale das unausſprechliche Vergnuͤgen ver¬
botner Lektuͤre.

Sein Vater war ein abgeſagter Feind von
allen Romanen, und drohete ein ſolches Buch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0053" n="43"/>
      <p>Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen,<lb/>
und ihm &#x017F;ein Antheil hingelegt wurde, ohne da¬<lb/>
bei zu &#x017F;agen, es &#x017F;ey der &#x017F;einige, &#x017F;o ließ er ihn<lb/>
lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fu&#x0364;r ihn<lb/>
be&#x017F;timmt war, um nur die Su&#x0364;ßigkeit des Un¬<lb/>
rechtleidens zu empfinden, und &#x017F;agen zu ko&#x0364;nnen,<lb/>
alle andre haben etwas, und ich nichts bekom¬<lb/>
men! Da er eingebildetes Unrecht &#x017F;chon &#x017F;o &#x017F;tark<lb/>
empfand, um &#x017F;o viel &#x017F;ta&#x0364;rker mußte er das wirk¬<lb/>
liche empfinden. Und gewiß i&#x017F;t wohl bei nie¬<lb/>
manden die Empfindung des Unrechts &#x017F;ta&#x0364;rker,<lb/>
als bei Kindern, und niemanden kann auch<lb/>
leichter Unrecht ge&#x017F;chehen; ein Satz, den alle<lb/>
Pa&#x0364;dagogen ta&#x0364;glich und &#x017F;tu&#x0364;ndlich beherzigen<lb/>
&#x017F;ollten.</p><lb/>
      <p>Oft konnte Anton &#x017F;tundenlang nachdenken,<lb/>
und Gru&#x0364;nde gegen Gru&#x0364;nde auf das genaue&#x017F;te<lb/>
abwa&#x0364;gen, ob eine Zu&#x0364;chtigung von &#x017F;einem Vater<lb/>
recht oder unrecht &#x017F;ey?</p><lb/>
      <p>Jetzt genoß er in &#x017F;einem eilften Jahre zum<lb/>
er&#x017F;tenmale das unaus&#x017F;prechliche Vergnu&#x0364;gen ver¬<lb/>
botner Lektu&#x0364;re.</p><lb/>
      <p>Sein Vater war ein abge&#x017F;agter Feind von<lb/>
allen Romanen, und drohete ein &#x017F;olches Buch<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0053] Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen, und ihm ſein Antheil hingelegt wurde, ohne da¬ bei zu ſagen, es ſey der ſeinige, ſo ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fuͤr ihn beſtimmt war, um nur die Suͤßigkeit des Un¬ rechtleidens zu empfinden, und ſagen zu koͤnnen, alle andre haben etwas, und ich nichts bekom¬ men! Da er eingebildetes Unrecht ſchon ſo ſtark empfand, um ſo viel ſtaͤrker mußte er das wirk¬ liche empfinden. Und gewiß iſt wohl bei nie¬ manden die Empfindung des Unrechts ſtaͤrker, als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geſchehen; ein Satz, den alle Paͤdagogen taͤglich und ſtuͤndlich beherzigen ſollten. Oft konnte Anton ſtundenlang nachdenken, und Gruͤnde gegen Gruͤnde auf das genaueſte abwaͤgen, ob eine Zuͤchtigung von ſeinem Vater recht oder unrecht ſey? Jetzt genoß er in ſeinem eilften Jahre zum erſtenmale das unausſprechliche Vergnuͤgen ver¬ botner Lektuͤre. Sein Vater war ein abgeſagter Feind von allen Romanen, und drohete ein ſolches Buch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/53
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/53>, abgerufen am 23.11.2024.