eine Art von bitterer Verachtung gegen sich selbst, die sich aber plötzlich in eine unaussprechliche Wehmuth verwandelte, da er zufälliger Weise die Lieder der Madam Guion aufschlug, und eins fand, das gerade auf seinen Zustand zu passen schien. -- Eine solche Vernichtung, wie er in diesem Augenblick fühlte, mußte nach dem Liede der Mad. Guion vorhergehen, um sich in dem Abgrunde der ewigen Liebe, wie ein Tro¬ pfen im Ocean, zu verlieren. -- -- Allein, da nun der Hunger anfing, ihm unausstehlich zu werden, so wollten auch die Tröstungen der Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte es, hinunter zu gehen, wo seine Eltern in großer Gesellschaft schmauseten, öfnete ein klein wenig die Thüre, und bat seine Mutter um den Schlüs¬ sel zum Speiseschranke, und um die Erlaubniß, sich ein wenig Brod nehmen zu dürfen, weil ihn sehr hungere.
Dieß erweckte erst das Gelächter und nach¬ her das Mitleid der Gesellschaft, nebst einigen Unwillen gegen seine Eltern.
Er ward mit an den Tisch gezogen, und ihm von dem Besten vorgelegt, welches ihm denn
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eine Art von bitterer Verachtung gegen ſich ſelbſt, die ſich aber ploͤtzlich in eine unausſprechliche Wehmuth verwandelte, da er zufaͤlliger Weiſe die Lieder der Madam Guion aufſchlug, und eins fand, das gerade auf ſeinen Zuſtand zu paſſen ſchien. — Eine ſolche Vernichtung, wie er in dieſem Augenblick fuͤhlte, mußte nach dem Liede der Mad. Guion vorhergehen, um ſich in dem Abgrunde der ewigen Liebe, wie ein Tro¬ pfen im Ocean, zu verlieren. — — Allein, da nun der Hunger anfing, ihm unausſtehlich zu werden, ſo wollten auch die Troͤſtungen der Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte es, hinunter zu gehen, wo ſeine Eltern in großer Geſellſchaft ſchmauſeten, oͤfnete ein klein wenig die Thuͤre, und bat ſeine Mutter um den Schluͤſ¬ ſel zum Speiſeſchranke, und um die Erlaubniß, ſich ein wenig Brod nehmen zu duͤrfen, weil ihn ſehr hungere.
Dieß erweckte erſt das Gelaͤchter und nach¬ her das Mitleid der Geſellſchaft, nebſt einigen Unwillen gegen ſeine Eltern.
Er ward mit an den Tiſch gezogen, und ihm von dem Beſten vorgelegt, welches ihm denn
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eine Art von bitterer Verachtung gegen ſich ſelbſt,
die ſich aber ploͤtzlich in eine unausſprechliche
Wehmuth verwandelte, da er zufaͤlliger Weiſe
die Lieder der Madam Guion aufſchlug, und
eins fand, das gerade auf ſeinen Zuſtand zu
paſſen ſchien. — Eine ſolche Vernichtung, wie
er in dieſem Augenblick fuͤhlte, mußte nach dem
Liede der Mad. Guion vorhergehen, um ſich in
dem Abgrunde der ewigen Liebe, wie ein Tro¬
pfen im Ocean, zu verlieren. — — Allein, da
nun der Hunger anfing, ihm unausſtehlich zu
werden, ſo wollten auch die Troͤſtungen der
Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte
es, hinunter zu gehen, wo ſeine Eltern in großer
Geſellſchaft ſchmauſeten, oͤfnete ein klein wenig
die Thuͤre, und bat ſeine Mutter um den Schluͤſ¬
ſel zum Speiſeſchranke, und um die Erlaubniß,
ſich ein wenig Brod nehmen zu duͤrfen, weil
ihn ſehr hungere.
Dieß erweckte erſt das Gelaͤchter und nach¬
her das Mitleid der Geſellſchaft, nebſt einigen
Unwillen gegen ſeine Eltern.
Er ward mit an den Tiſch gezogen, und ihm
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/35>, abgerufen am 27.07.2024.
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