Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

man schon vom sechsten bis zum vierzehnten
Jahre in der Frömmigkeit wachsen könne. Die
Abhandlungen in diesem Büchelchen hießen also:
für Kinder von sechs Jahren, für Kinder
von sieben Jahren
u. s. w. Anton las also
den Abschnitt für Kinder von neun Jahren,
und fand, daß es noch Zeit sey, ein frommer
Mensch zu werden, daß er aber schon drei Jahre
versäumt habe.

Dieß erschütterte seine ganze Seele, und er
faßte einen so festen Vorsatz sich zu bekehren, wie
ihn wohl selten Erwachsene fassen mögen. Von
der Stunde an befolgte er alles, was von
Gebet, Gehorsam, Geduld, Ordnung u. s. w.
in dem Buche stand, auf das pünktlichste, und
machte sich nun beinahe jeden zu schnellen Schritt
zur Sünde. Wie weit, dachte er, werde ich
nun nicht schon in fünf Jahren seyn, wenn ich
hierbey bleibe. Denn in dem kleinen Buche
war das Fortrücken in der Frömmigkeit gleich¬
sam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie
man etwa sich freuet, aus einer Klasse in die
andere immer höher gestiegen zu seyn.

B 3

man ſchon vom ſechſten bis zum vierzehnten
Jahre in der Froͤmmigkeit wachſen koͤnne. Die
Abhandlungen in dieſem Buͤchelchen hießen alſo:
fuͤr Kinder von ſechs Jahren, fuͤr Kinder
von ſieben Jahren
u. ſ. w. Anton las alſo
den Abſchnitt fuͤr Kinder von neun Jahren,
und fand, daß es noch Zeit ſey, ein frommer
Menſch zu werden, daß er aber ſchon drei Jahre
verſaͤumt habe.

Dieß erſchuͤtterte ſeine ganze Seele, und er
faßte einen ſo feſten Vorſatz ſich zu bekehren, wie
ihn wohl ſelten Erwachſene faſſen moͤgen. Von
der Stunde an befolgte er alles, was von
Gebet, Gehorſam, Geduld, Ordnung u. ſ. w.
in dem Buche ſtand, auf das puͤnktlichſte, und
machte ſich nun beinahe jeden zu ſchnellen Schritt
zur Suͤnde. Wie weit, dachte er, werde ich
nun nicht ſchon in fuͤnf Jahren ſeyn, wenn ich
hierbey bleibe. Denn in dem kleinen Buche
war das Fortruͤcken in der Froͤmmigkeit gleich¬
ſam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie
man etwa ſich freuet, aus einer Klaſſe in die
andere immer hoͤher geſtiegen zu ſeyn.

B 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0031" n="21"/>
man &#x017F;chon vom &#x017F;ech&#x017F;ten bis zum vierzehnten<lb/>
Jahre in der Fro&#x0364;mmigkeit wach&#x017F;en ko&#x0364;nne. Die<lb/>
Abhandlungen in die&#x017F;em Bu&#x0364;chelchen hießen al&#x017F;o:<lb/><hi rendition="#fr">fu&#x0364;r Kinder von &#x017F;echs Jahren</hi>, <hi rendition="#fr">fu&#x0364;r Kinder<lb/>
von &#x017F;ieben Jahren</hi> u. &#x017F;. w. Anton las al&#x017F;o<lb/>
den Ab&#x017F;chnitt <hi rendition="#fr">fu&#x0364;r Kinder von neun Jahren</hi>,<lb/>
und fand, daß es noch Zeit &#x017F;ey, ein frommer<lb/>
Men&#x017F;ch zu werden, daß er aber &#x017F;chon drei Jahre<lb/>
ver&#x017F;a&#x0364;umt habe.</p><lb/>
      <p>Dieß er&#x017F;chu&#x0364;tterte &#x017F;eine ganze Seele, und er<lb/>
faßte einen &#x017F;o fe&#x017F;ten Vor&#x017F;atz &#x017F;ich zu bekehren, wie<lb/>
ihn wohl &#x017F;elten Erwach&#x017F;ene fa&#x017F;&#x017F;en mo&#x0364;gen. Von<lb/>
der Stunde an befolgte er alles, was von<lb/>
Gebet, Gehor&#x017F;am, Geduld, Ordnung u. &#x017F;. w.<lb/>
in dem Buche &#x017F;tand, auf das pu&#x0364;nktlich&#x017F;te, und<lb/>
machte &#x017F;ich nun beinahe jeden zu &#x017F;chnellen Schritt<lb/>
zur Su&#x0364;nde. Wie weit, dachte er, werde ich<lb/>
nun nicht &#x017F;chon in fu&#x0364;nf Jahren &#x017F;eyn, wenn ich<lb/>
hierbey bleibe. Denn in dem kleinen Buche<lb/>
war das Fortru&#x0364;cken in der Fro&#x0364;mmigkeit gleich¬<lb/>
&#x017F;am zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie<lb/>
man etwa &#x017F;ich freuet, aus einer Kla&#x017F;&#x017F;e in die<lb/>
andere immer ho&#x0364;her ge&#x017F;tiegen zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">B 3<lb/></fw>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0031] man ſchon vom ſechſten bis zum vierzehnten Jahre in der Froͤmmigkeit wachſen koͤnne. Die Abhandlungen in dieſem Buͤchelchen hießen alſo: fuͤr Kinder von ſechs Jahren, fuͤr Kinder von ſieben Jahren u. ſ. w. Anton las alſo den Abſchnitt fuͤr Kinder von neun Jahren, und fand, daß es noch Zeit ſey, ein frommer Menſch zu werden, daß er aber ſchon drei Jahre verſaͤumt habe. Dieß erſchuͤtterte ſeine ganze Seele, und er faßte einen ſo feſten Vorſatz ſich zu bekehren, wie ihn wohl ſelten Erwachſene faſſen moͤgen. Von der Stunde an befolgte er alles, was von Gebet, Gehorſam, Geduld, Ordnung u. ſ. w. in dem Buche ſtand, auf das puͤnktlichſte, und machte ſich nun beinahe jeden zu ſchnellen Schritt zur Suͤnde. Wie weit, dachte er, werde ich nun nicht ſchon in fuͤnf Jahren ſeyn, wenn ich hierbey bleibe. Denn in dem kleinen Buche war das Fortruͤcken in der Froͤmmigkeit gleich¬ ſam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie man etwa ſich freuet, aus einer Klaſſe in die andere immer hoͤher geſtiegen zu ſeyn. B 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/31
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/31>, abgerufen am 23.11.2024.