Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Verachtung erstreckte sich nachher auch
auf ihre übrigen Einsichten, und je mehr sie dies
empfand, je stärker mußte nothwendig die ehe¬
liche Liebe sich vermindern, und das wechselsei¬
tige Mißvergnügen aneinander mit jedem Tage
zunehmen.

Antons Mutter hatte eine starke Belesenheit
in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Er¬
kenntniß von ihrem Religionssystem, sie wußte
z. E. sehr erbaulich davon zu reden, daß der
Glaube ohne Werke todt sey, u. s. w.

In der Bibel las sie wirklich zu ganzen
Stunden mit innigem Vergnügen, aber sobald
ihr Mann es versuchte, ihr aus den Guionschen
Schriften vorzulesen, so empfand sie eine Art
von Bangigkeit, die vermuthlich aus der Vor¬
stellung entstand, sie werde dadurch in dem rech¬
ten Glauben irre gemacht werden.

Sie suchte sich alsdann auf alle Weise loszu¬
machen. -- Hiezu kam nun noch, daß sie vieles
von der Kälte und dem lieblosen Wesen ihres
Mannes auf Rechnung der Guionschen Lehre
schrieb, die sie nun in ihrem Herzen immermehr
zu verwünschen anfing, und bei dem völligen

Dieſe Verachtung erſtreckte ſich nachher auch
auf ihre uͤbrigen Einſichten, und je mehr ſie dies
empfand, je ſtaͤrker mußte nothwendig die ehe¬
liche Liebe ſich vermindern, und das wechſelſei¬
tige Mißvergnuͤgen aneinander mit jedem Tage
zunehmen.

Antons Mutter hatte eine ſtarke Beleſenheit
in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Er¬
kenntniß von ihrem Religionsſyſtem, ſie wußte
z. E. ſehr erbaulich davon zu reden, daß der
Glaube ohne Werke todt ſey, u. ſ. w.

In der Bibel las ſie wirklich zu ganzen
Stunden mit innigem Vergnuͤgen, aber ſobald
ihr Mann es verſuchte, ihr aus den Guionſchen
Schriften vorzuleſen, ſo empfand ſie eine Art
von Bangigkeit, die vermuthlich aus der Vor¬
ſtellung entſtand, ſie werde dadurch in dem rech¬
ten Glauben irre gemacht werden.

Sie ſuchte ſich alsdann auf alle Weiſe loszu¬
machen. — Hiezu kam nun noch, daß ſie vieles
von der Kaͤlte und dem liebloſen Weſen ihres
Mannes auf Rechnung der Guionſchen Lehre
ſchrieb, die ſie nun in ihrem Herzen immermehr
zu verwuͤnſchen anfing, und bei dem voͤlligen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0018" n="8"/>
      <p>Die&#x017F;e Verachtung er&#x017F;treckte &#x017F;ich nachher auch<lb/>
auf ihre u&#x0364;brigen Ein&#x017F;ichten, und je mehr &#x017F;ie dies<lb/>
empfand, je &#x017F;ta&#x0364;rker mußte nothwendig die ehe¬<lb/>
liche Liebe &#x017F;ich vermindern, und das wech&#x017F;el&#x017F;ei¬<lb/>
tige Mißvergnu&#x0364;gen aneinander mit jedem Tage<lb/>
zunehmen.</p><lb/>
      <p>Antons Mutter hatte eine &#x017F;tarke Bele&#x017F;enheit<lb/>
in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Er¬<lb/>
kenntniß von ihrem Religions&#x017F;y&#x017F;tem, &#x017F;ie wußte<lb/>
z. E. &#x017F;ehr erbaulich davon zu reden, daß der<lb/>
Glaube ohne Werke todt &#x017F;ey, u. &#x017F;. w.</p><lb/>
      <p>In der Bibel las &#x017F;ie wirklich zu ganzen<lb/>
Stunden mit innigem Vergnu&#x0364;gen, aber &#x017F;obald<lb/>
ihr Mann es ver&#x017F;uchte, ihr aus den Guion&#x017F;chen<lb/>
Schriften vorzule&#x017F;en, &#x017F;o empfand &#x017F;ie eine Art<lb/>
von Bangigkeit, die vermuthlich aus der Vor¬<lb/>
&#x017F;tellung ent&#x017F;tand, &#x017F;ie werde dadurch in dem rech¬<lb/>
ten Glauben irre gemacht werden.</p><lb/>
      <p>Sie &#x017F;uchte &#x017F;ich alsdann auf alle Wei&#x017F;e loszu¬<lb/>
machen. &#x2014; Hiezu kam nun noch, daß &#x017F;ie vieles<lb/>
von der Ka&#x0364;lte und dem lieblo&#x017F;en We&#x017F;en ihres<lb/>
Mannes auf Rechnung der Guion&#x017F;chen Lehre<lb/>
&#x017F;chrieb, die &#x017F;ie nun in ihrem Herzen immermehr<lb/>
zu verwu&#x0364;n&#x017F;chen anfing, und bei dem vo&#x0364;lligen<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0018] Dieſe Verachtung erſtreckte ſich nachher auch auf ihre uͤbrigen Einſichten, und je mehr ſie dies empfand, je ſtaͤrker mußte nothwendig die ehe¬ liche Liebe ſich vermindern, und das wechſelſei¬ tige Mißvergnuͤgen aneinander mit jedem Tage zunehmen. Antons Mutter hatte eine ſtarke Beleſenheit in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Er¬ kenntniß von ihrem Religionsſyſtem, ſie wußte z. E. ſehr erbaulich davon zu reden, daß der Glaube ohne Werke todt ſey, u. ſ. w. In der Bibel las ſie wirklich zu ganzen Stunden mit innigem Vergnuͤgen, aber ſobald ihr Mann es verſuchte, ihr aus den Guionſchen Schriften vorzuleſen, ſo empfand ſie eine Art von Bangigkeit, die vermuthlich aus der Vor¬ ſtellung entſtand, ſie werde dadurch in dem rech¬ ten Glauben irre gemacht werden. Sie ſuchte ſich alsdann auf alle Weiſe loszu¬ machen. — Hiezu kam nun noch, daß ſie vieles von der Kaͤlte und dem liebloſen Weſen ihres Mannes auf Rechnung der Guionſchen Lehre ſchrieb, die ſie nun in ihrem Herzen immermehr zu verwuͤnſchen anfing, und bei dem voͤlligen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/18
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/18>, abgerufen am 23.11.2024.