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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

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So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts,
woran wir alle unsre übrige Vorstellungen knü¬
pfen. -- Die einzelnen Straßen und Häuser,
die Anton täglich wieder sahe, waren das Blei¬
bende in seinen Vorstellungen, woran sich das
immer abwechselnde in seinem Leben anschloß,
wodurch es Zusammenhang und Wahrheit er¬
hielt, wodurch er das Wachen vom Träumen un¬
terschied -- --

In der Kindheit ist es insbesondre nöthig,
daß alle übrigen Ideen sich an die Ideen des
Orts anschließen, weil sie gleichsam in sich noch
zu wenig Konsistenz haben, und sich an sich sel¬
ber noch nicht fest halten können.

Es fällt daher auch würklich in der Kindheit
oft schwer, das Wachen vom Traume zu unter¬
scheiden; und ich erinnere mich, daß einer un¬
serer größten jetztlebenden Philosophen, mir in
dieser Rücksicht eine sehr merkwürdige Beob¬
achtung aus den Jahren seiner Kindheit erzäh¬
let hat.

Er war wegen einer gewissen bösen Ange¬
wohnheit, die bei Kindern sehr gewöhnlich ist,
oft mit der Ruthe gezüchtigt worden. Es hatte

ihm

So maͤchtig wirkt die Vorſtellung des Orts,
woran wir alle unſre uͤbrige Vorſtellungen knuͤ¬
pfen. — Die einzelnen Straßen und Haͤuſer,
die Anton taͤglich wieder ſahe, waren das Blei¬
bende in ſeinen Vorſtellungen, woran ſich das
immer abwechſelnde in ſeinem Leben anſchloß,
wodurch es Zuſammenhang und Wahrheit er¬
hielt, wodurch er das Wachen vom Traͤumen un¬
terſchied — —

In der Kindheit iſt es insbeſondre noͤthig,
daß alle uͤbrigen Ideen ſich an die Ideen des
Orts anſchließen, weil ſie gleichſam in ſich noch
zu wenig Konſiſtenz haben, und ſich an ſich ſel¬
ber noch nicht feſt halten koͤnnen.

Es faͤllt daher auch wuͤrklich in der Kindheit
oft ſchwer, das Wachen vom Traume zu unter¬
ſcheiden; und ich erinnere mich, daß einer un¬
ſerer groͤßten jetztlebenden Philoſophen, mir in
dieſer Ruͤckſicht eine ſehr merkwuͤrdige Beob¬
achtung aus den Jahren ſeiner Kindheit erzaͤh¬
let hat.

Er war wegen einer gewiſſen boͤſen Ange¬
wohnheit, die bei Kindern ſehr gewoͤhnlich iſt,
oft mit der Ruthe gezuͤchtigt worden. Es hatte

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[140/0150] So maͤchtig wirkt die Vorſtellung des Orts, woran wir alle unſre uͤbrige Vorſtellungen knuͤ¬ pfen. — Die einzelnen Straßen und Haͤuſer, die Anton taͤglich wieder ſahe, waren das Blei¬ bende in ſeinen Vorſtellungen, woran ſich das immer abwechſelnde in ſeinem Leben anſchloß, wodurch es Zuſammenhang und Wahrheit er¬ hielt, wodurch er das Wachen vom Traͤumen un¬ terſchied — — In der Kindheit iſt es insbeſondre noͤthig, daß alle uͤbrigen Ideen ſich an die Ideen des Orts anſchließen, weil ſie gleichſam in ſich noch zu wenig Konſiſtenz haben, und ſich an ſich ſel¬ ber noch nicht feſt halten koͤnnen. Es faͤllt daher auch wuͤrklich in der Kindheit oft ſchwer, das Wachen vom Traume zu unter¬ ſcheiden; und ich erinnere mich, daß einer un¬ ſerer groͤßten jetztlebenden Philoſophen, mir in dieſer Ruͤckſicht eine ſehr merkwuͤrdige Beob¬ achtung aus den Jahren ſeiner Kindheit erzaͤh¬ let hat. Er war wegen einer gewiſſen boͤſen Ange¬ wohnheit, die bei Kindern ſehr gewoͤhnlich iſt, oft mit der Ruthe gezuͤchtigt worden. Es hatte ihm

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/150>, abgerufen am 23.11.2024.