Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

würde wohl z. B. bei dem Anblick der Bildsäule
des Jupiter von Phidias Meisterhand, zuerst
an die öbere Luft gedacht haben, die durch den
Jupiter bezeichnet werden soll, als wer alles
Gefühl für Erhabenheit und Schönheit ver-
läugnet hätte, und im Stande gewesen wäre,
das höchste Werk der Kunst, wie eine Hierogly-
phe oder einen todten Buchstaben zu betrach-
ten, der seinen ganzen Werth nur dadurch
hat, weil er etwas außer sich bedeutet.

Ein wahres Kunstwerk, eine schöne Dich-
tung ist etwas in sich Fertiges und Vollende-
tes, das um sein selbst willen da ist, und des-
sen Werth in ihm selber, und in dem wohlge-
ordneten Verhältniß seiner Theile liegt; da
hingegen die bloßen Hiroglyphen oder Buchsta-
ben an sich so ungestaltet seyn können, wie sie
wollen, wenn sie nur das bezeichnen, was
man sich dabei denken soll.

Der müßte wenig von den hohen Dichter-
schönheiten des Homer gerührt seyn, der nach
Durchlesung desselben noch fragen könnte:
was bedeutet die Iliade? was bedeutet die
Odyssee?

wuͤrde wohl z. B. bei dem Anblick der Bildſaͤule
des Jupiter von Phidias Meiſterhand, zuerſt
an die oͤbere Luft gedacht haben, die durch den
Jupiter bezeichnet werden ſoll, als wer alles
Gefuͤhl fuͤr Erhabenheit und Schoͤnheit ver-
laͤugnet haͤtte, und im Stande geweſen waͤre,
das hoͤchſte Werk der Kunſt, wie eine Hierogly-
phe oder einen todten Buchſtaben zu betrach-
ten, der ſeinen ganzen Werth nur dadurch
hat, weil er etwas außer ſich bedeutet.

Ein wahres Kunſtwerk, eine ſchoͤne Dich-
tung iſt etwas in ſich Fertiges und Vollende-
tes, das um ſein ſelbſt willen da iſt, und deſ-
ſen Werth in ihm ſelber, und in dem wohlge-
ordneten Verhaͤltniß ſeiner Theile liegt; da
hingegen die bloßen Hiroglyphen oder Buchſta-
ben an ſich ſo ungeſtaltet ſeyn koͤnnen, wie ſie
wollen, wenn ſie nur das bezeichnen, was
man ſich dabei denken ſoll.

Der muͤßte wenig von den hohen Dichter-
ſchoͤnheiten des Homer geruͤhrt ſeyn, der nach
Durchleſung deſſelben noch fragen koͤnnte:
was bedeutet die Iliade? was bedeutet die
Odyſſee?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="5"/>
wu&#x0364;rde wohl z. B. bei dem Anblick der Bild&#x017F;a&#x0364;ule<lb/>
des Jupiter von Phidias Mei&#x017F;terhand, zuer&#x017F;t<lb/>
an die o&#x0364;bere Luft gedacht haben, die durch den<lb/>
Jupiter bezeichnet werden &#x017F;oll, als wer alles<lb/>
Gefu&#x0364;hl fu&#x0364;r Erhabenheit und Scho&#x0364;nheit ver-<lb/>
la&#x0364;ugnet ha&#x0364;tte, und im Stande gewe&#x017F;en wa&#x0364;re,<lb/>
das ho&#x0364;ch&#x017F;te Werk der Kun&#x017F;t, wie eine Hierogly-<lb/>
phe oder einen todten Buch&#x017F;taben zu betrach-<lb/>
ten, der &#x017F;einen ganzen Werth nur dadurch<lb/>
hat, weil er etwas außer &#x017F;ich bedeutet.</p><lb/>
        <p>Ein wahres Kun&#x017F;twerk, eine &#x017F;cho&#x0364;ne Dich-<lb/>
tung i&#x017F;t etwas in &#x017F;ich Fertiges und Vollende-<lb/>
tes, das um &#x017F;ein &#x017F;elb&#x017F;t willen da i&#x017F;t, und de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Werth in ihm &#x017F;elber, und in dem wohlge-<lb/>
ordneten Verha&#x0364;ltniß &#x017F;einer Theile liegt; da<lb/>
hingegen die bloßen Hiroglyphen oder Buch&#x017F;ta-<lb/>
ben an &#x017F;ich &#x017F;o unge&#x017F;taltet &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, wie &#x017F;ie<lb/>
wollen, wenn &#x017F;ie nur das bezeichnen, was<lb/>
man &#x017F;ich dabei denken &#x017F;oll.</p><lb/>
        <p>Der mu&#x0364;ßte wenig von den hohen Dichter-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nheiten des Homer geru&#x0364;hrt &#x017F;eyn, der nach<lb/>
Durchle&#x017F;ung de&#x017F;&#x017F;elben noch fragen ko&#x0364;nnte:<lb/>
was bedeutet die Iliade? was bedeutet die<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;ee?</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0025] wuͤrde wohl z. B. bei dem Anblick der Bildſaͤule des Jupiter von Phidias Meiſterhand, zuerſt an die oͤbere Luft gedacht haben, die durch den Jupiter bezeichnet werden ſoll, als wer alles Gefuͤhl fuͤr Erhabenheit und Schoͤnheit ver- laͤugnet haͤtte, und im Stande geweſen waͤre, das hoͤchſte Werk der Kunſt, wie eine Hierogly- phe oder einen todten Buchſtaben zu betrach- ten, der ſeinen ganzen Werth nur dadurch hat, weil er etwas außer ſich bedeutet. Ein wahres Kunſtwerk, eine ſchoͤne Dich- tung iſt etwas in ſich Fertiges und Vollende- tes, das um ſein ſelbſt willen da iſt, und deſ- ſen Werth in ihm ſelber, und in dem wohlge- ordneten Verhaͤltniß ſeiner Theile liegt; da hingegen die bloßen Hiroglyphen oder Buchſta- ben an ſich ſo ungeſtaltet ſeyn koͤnnen, wie ſie wollen, wenn ſie nur das bezeichnen, was man ſich dabei denken ſoll. Der muͤßte wenig von den hohen Dichter- ſchoͤnheiten des Homer geruͤhrt ſeyn, der nach Durchleſung deſſelben noch fragen koͤnnte: was bedeutet die Iliade? was bedeutet die Odyſſee?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/25
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/25>, abgerufen am 23.11.2024.