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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Und als sie nun beide, um ihren Streit zu
schlichten, vor dem Vater der Götter auf dem
Olymp erscheinen, so bringt zuerst Apollo wegen
der entwandten Rinder seine Klage vor. --
Merkur aber stand in Windeln da, um durch sein
zartes Alter selbst die Klage zu widerlegen.

Seh' ich denn wohl, so sprach er zum Jupiter,
einem starken Manne gleich, der Rinder hinweg-
zutreiben vermag? -- Gewiß sollst du, mein
Erzeuger selbst, die Wahrheit von mir hören: ich
lag in süßem Schlummer, und habe die Schwelle
unsrer Wohnung nicht überschritten; -- du weißt
auch selber wohl, daß ich nicht schuldig bin; doch
will ichs auch durch den größten Schwur betheu-
ern; und jenem einst sein grausames Wort ver-
gelten; du aber stehe dem jüngern bei!

So sprach Merkur mit den Augen blinzelnd,
und Jupiter lächelte über den Knaben, daß er
so schön und klug den Diebstahl zu leugnen
wußte
. --

Zugleich befahl er dem Merkur, den Ort zu
zeigen, wo die Rinder verborgen wären. Als
dieser nun Jupiters Befehl gehorchte, ward auch
Apollo wieder mit ihm versöhnet; und die vom
Merkur erfundene Laute war der Versöhnung
Unterpfand.

Denn als der Gott der Harmonien ganz ent-
zückt den lieblichen Ton vernahm, der fähig ist,

L

Und als ſie nun beide, um ihren Streit zu
ſchlichten, vor dem Vater der Goͤtter auf dem
Olymp erſcheinen, ſo bringt zuerſt Apollo wegen
der entwandten Rinder ſeine Klage vor. —
Merkur aber ſtand in Windeln da, um durch ſein
zartes Alter ſelbſt die Klage zu widerlegen.

Seh’ ich denn wohl, ſo ſprach er zum Jupiter,
einem ſtarken Manne gleich, der Rinder hinweg-
zutreiben vermag? — Gewiß ſollſt du, mein
Erzeuger ſelbſt, die Wahrheit von mir hoͤren: ich
lag in ſuͤßem Schlummer, und habe die Schwelle
unſrer Wohnung nicht uͤberſchritten; — du weißt
auch ſelber wohl, daß ich nicht ſchuldig bin; doch
will ichs auch durch den groͤßten Schwur betheu-
ern; und jenem einſt ſein grauſames Wort ver-
gelten; du aber ſtehe dem juͤngern bei!

So ſprach Merkur mit den Augen blinzelnd,
und Jupiter laͤchelte uͤber den Knaben, daß er
ſo ſchoͤn und klug den Diebſtahl zu leugnen
wußte
. —

Zugleich befahl er dem Merkur, den Ort zu
zeigen, wo die Rinder verborgen waͤren. Als
dieſer nun Jupiters Befehl gehorchte, ward auch
Apollo wieder mit ihm verſoͤhnet; und die vom
Merkur erfundene Laute war der Verſoͤhnung
Unterpfand.

Denn als der Gott der Harmonien ganz ent-
zuͤckt den lieblichen Ton vernahm, der faͤhig iſt,

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[161/0205] Und als ſie nun beide, um ihren Streit zu ſchlichten, vor dem Vater der Goͤtter auf dem Olymp erſcheinen, ſo bringt zuerſt Apollo wegen der entwandten Rinder ſeine Klage vor. — Merkur aber ſtand in Windeln da, um durch ſein zartes Alter ſelbſt die Klage zu widerlegen. Seh’ ich denn wohl, ſo ſprach er zum Jupiter, einem ſtarken Manne gleich, der Rinder hinweg- zutreiben vermag? — Gewiß ſollſt du, mein Erzeuger ſelbſt, die Wahrheit von mir hoͤren: ich lag in ſuͤßem Schlummer, und habe die Schwelle unſrer Wohnung nicht uͤberſchritten; — du weißt auch ſelber wohl, daß ich nicht ſchuldig bin; doch will ichs auch durch den groͤßten Schwur betheu- ern; und jenem einſt ſein grauſames Wort ver- gelten; du aber ſtehe dem juͤngern bei! So ſprach Merkur mit den Augen blinzelnd, und Jupiter laͤchelte uͤber den Knaben, daß er ſo ſchoͤn und klug den Diebſtahl zu leugnen wußte. — Zugleich befahl er dem Merkur, den Ort zu zeigen, wo die Rinder verborgen waͤren. Als dieſer nun Jupiters Befehl gehorchte, ward auch Apollo wieder mit ihm verſoͤhnet; und die vom Merkur erfundene Laute war der Verſoͤhnung Unterpfand. Denn als der Gott der Harmonien ganz ent- zuͤckt den lieblichen Ton vernahm, der faͤhig iſt, L

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/205>, abgerufen am 27.04.2024.