Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite


mir sehend, bekam ich keine Antwort. Jch empfing darauf den Brief von seinem Vetter, sah, daß er nicht wie Herr Dokt. Abel in Halberstadt unrecht benachrichtiget geglaubt, schon vorher Anfälle davon gehabt, sondern daß seine Melancholie sich mit einem hitzigen Fieber angefangen hatte. Jch dachte dem nach, und gerieth dabei auf den Gedanken, daß vielleicht eine Krankheitsmaterie sich auf seine Nerven geworfen haben könnte, die, nachdem sie gehoben und zertheilt, einen gewissen Blödsinn, Stumpfheit oder Unbrauchbarkeit seiner Geisteskräfte zurückgelassen hätte, beschloß also, ihn als ein Kind zu behandeln, in dessen Seele ich neue Jdeen nicht erst erzeugen, sondern die alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben müßte.

Jch fing daher an mit ihm in meiner Stube auf- und niederzugehen, zeigte an meinen Füßen, auf welche ich ihn verwieß, wie er stehen müßte, er ahmte dieß, jedoch mit Mühe und nicht lange anhaltend nach. Dies und eine etwanige Entwickelung eines Ja und Neins, woraus ich dann doch schließen konnte, daß er mich verstand, war in den ersten Tagen meine einzige Beschäftigung, ohne anderweitige Unterredungen mit ihm halten zu können. Nach einigen Tagen gelang es mir, daß er, ohne ihn anzufassen, neben mir her schon ging, allein immer noch furchtsam und mit keinem festen Tritt. Jch war stets aufmerksam auf jede seiner Bewegungen und Blicke, und mehr als einmal entdeckte ich


mir sehend, bekam ich keine Antwort. Jch empfing darauf den Brief von seinem Vetter, sah, daß er nicht wie Herr Dokt. Abel in Halberstadt unrecht benachrichtiget geglaubt, schon vorher Anfaͤlle davon gehabt, sondern daß seine Melancholie sich mit einem hitzigen Fieber angefangen hatte. Jch dachte dem nach, und gerieth dabei auf den Gedanken, daß vielleicht eine Krankheitsmaterie sich auf seine Nerven geworfen haben koͤnnte, die, nachdem sie gehoben und zertheilt, einen gewissen Bloͤdsinn, Stumpfheit oder Unbrauchbarkeit seiner Geisteskraͤfte zuruͤckgelassen haͤtte, beschloß also, ihn als ein Kind zu behandeln, in dessen Seele ich neue Jdeen nicht erst erzeugen, sondern die alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben muͤßte.

Jch fing daher an mit ihm in meiner Stube auf- und niederzugehen, zeigte an meinen Fuͤßen, auf welche ich ihn verwieß, wie er stehen muͤßte, er ahmte dieß, jedoch mit Muͤhe und nicht lange anhaltend nach. Dies und eine etwanige Entwickelung eines Ja und Neins, woraus ich dann doch schließen konnte, daß er mich verstand, war in den ersten Tagen meine einzige Beschaͤftigung, ohne anderweitige Unterredungen mit ihm halten zu koͤnnen. Nach einigen Tagen gelang es mir, daß er, ohne ihn anzufassen, neben mir her schon ging, allein immer noch furchtsam und mit keinem festen Tritt. Jch war stets aufmerksam auf jede seiner Bewegungen und Blicke, und mehr als einmal entdeckte ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0116" n="116"/><lb/>
mir sehend,                         bekam ich keine Antwort. Jch empfing darauf den Brief von seinem Vetter,                         sah, daß er nicht wie Herr Dokt. Abel in Halberstadt unrecht benachrichtiget                         geglaubt, schon vorher Anfa&#x0364;lle davon gehabt, sondern daß seine Melancholie                         sich mit einem hitzigen Fieber angefangen hatte. Jch dachte dem nach, und                         gerieth dabei auf den Gedanken, daß vielleicht eine Krankheitsmaterie sich                         auf seine Nerven geworfen haben ko&#x0364;nnte, die, nachdem sie gehoben und                         zertheilt, einen gewissen Blo&#x0364;dsinn, Stumpfheit oder Unbrauchbarkeit seiner                         Geisteskra&#x0364;fte zuru&#x0364;ckgelassen ha&#x0364;tte, beschloß also, ihn als ein Kind zu                         behandeln, in dessen Seele ich neue Jdeen nicht erst erzeugen, sondern die                         alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben mu&#x0364;ßte. </p>
            <p>Jch fing daher an mit ihm in meiner Stube auf- und niederzugehen, zeigte an                         meinen Fu&#x0364;ßen, auf welche ich ihn verwieß, wie er stehen mu&#x0364;ßte, er ahmte                         dieß, jedoch mit Mu&#x0364;he und nicht lange anhaltend nach. Dies und eine etwanige                         Entwickelung eines Ja und Neins, woraus ich dann doch schließen konnte, daß                         er mich verstand, war in den ersten Tagen meine einzige Bescha&#x0364;ftigung, ohne                         anderweitige Unterredungen mit ihm halten zu ko&#x0364;nnen. Nach einigen Tagen                         gelang es mir, daß er, ohne ihn anzufassen, neben mir her schon ging, allein                         immer noch furchtsam und mit keinem festen Tritt. Jch war stets aufmerksam                         auf jede seiner Bewegungen und Blicke, und mehr als einmal entdeckte ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0116] mir sehend, bekam ich keine Antwort. Jch empfing darauf den Brief von seinem Vetter, sah, daß er nicht wie Herr Dokt. Abel in Halberstadt unrecht benachrichtiget geglaubt, schon vorher Anfaͤlle davon gehabt, sondern daß seine Melancholie sich mit einem hitzigen Fieber angefangen hatte. Jch dachte dem nach, und gerieth dabei auf den Gedanken, daß vielleicht eine Krankheitsmaterie sich auf seine Nerven geworfen haben koͤnnte, die, nachdem sie gehoben und zertheilt, einen gewissen Bloͤdsinn, Stumpfheit oder Unbrauchbarkeit seiner Geisteskraͤfte zuruͤckgelassen haͤtte, beschloß also, ihn als ein Kind zu behandeln, in dessen Seele ich neue Jdeen nicht erst erzeugen, sondern die alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben muͤßte. Jch fing daher an mit ihm in meiner Stube auf- und niederzugehen, zeigte an meinen Fuͤßen, auf welche ich ihn verwieß, wie er stehen muͤßte, er ahmte dieß, jedoch mit Muͤhe und nicht lange anhaltend nach. Dies und eine etwanige Entwickelung eines Ja und Neins, woraus ich dann doch schließen konnte, daß er mich verstand, war in den ersten Tagen meine einzige Beschaͤftigung, ohne anderweitige Unterredungen mit ihm halten zu koͤnnen. Nach einigen Tagen gelang es mir, daß er, ohne ihn anzufassen, neben mir her schon ging, allein immer noch furchtsam und mit keinem festen Tritt. Jch war stets aufmerksam auf jede seiner Bewegungen und Blicke, und mehr als einmal entdeckte ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/116
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/116>, abgerufen am 18.05.2024.