Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.
Da er aber hier überrascht zu werden fürchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemüthe zurückbegeben. Seit der Zeit war er beständig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte. Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genüge zu leisten, war kein anderes Mittel für ihn übrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmöglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebräischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen. Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umständen. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebräischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernähren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natürlichen Triebes vergebens seufzen.
Da er aber hier uͤberrascht zu werden fuͤrchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemuͤthe zuruͤckbegeben. Seit der Zeit war er bestaͤndig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte. Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genuͤge zu leisten, war kein anderes Mittel fuͤr ihn uͤbrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmoͤglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebraͤischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen. Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umstaͤnden. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebraͤischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernaͤhren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natuͤrlichen Triebes vergebens seufzen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0034" n="32"/><lb/> talmudistischen Gesetze eingedenk, zuruͤckfliehn, aber konnte nicht. Er blieb also auf seiner Stelle wie angewurzelt stehn.</p> <p>Da er aber hier uͤberrascht zu werden fuͤrchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemuͤthe zuruͤckbegeben. Seit der Zeit war er bestaͤndig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte.</p> <p>Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genuͤge zu leisten, war kein anderes Mittel fuͤr ihn uͤbrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmoͤglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebraͤischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen.</p> <p>Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umstaͤnden. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebraͤischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernaͤhren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natuͤrlichen Triebes vergebens seufzen.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [32/0034]
talmudistischen Gesetze eingedenk, zuruͤckfliehn, aber konnte nicht. Er blieb also auf seiner Stelle wie angewurzelt stehn.
Da er aber hier uͤberrascht zu werden fuͤrchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemuͤthe zuruͤckbegeben. Seit der Zeit war er bestaͤndig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte.
Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genuͤge zu leisten, war kein anderes Mittel fuͤr ihn uͤbrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmoͤglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebraͤischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen.
Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umstaͤnden. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebraͤischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernaͤhren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natuͤrlichen Triebes vergebens seufzen.
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