Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.Betrachten wir hingegen die Seelenkrankheit in ihrem Anfange, so wird jeder Mensch, außer den Stoischen Weisen, für ziemlich seelenkrank gehalten werden müssen, welches doch mit den Krankheiten des Körpers ganz anders beschaffen ist. 3) Die Therapie in der Seelenarzeneikunde ist auch von der in der Körperarzeneikunde sehr verschieden. Jn dieser kömmt man der Krankheit durch äußere Mittel zu Hülfe, deren Würkung nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung bekannt ist. Jst zum Beispiel eine Stockung der Säfte die Ursache der Krankheit, so bedienen wir uns der aus der Chimie bekannten Auflösungsmittel, deren Würkung nicht nur im menschlichen Körper sondern allgemein ist; und so verfahren wir auch in andern Fällen. Jn der Seelenarzeneikunde hingegen können wir uns keiner äußern Mittel bedienen, sondern, so wie die Ursache der Krankheit in der Seele selbst, so müssen auch die Mittel dawider in ihr selbst gesucht werden. Die Seelenarzeneikunde kann auch nicht wie die Körperarzeneikunde von der Mathematik, Mechanik oder Chimie einen Gebrauch machen. Von einer andern Seite betrachtet aber ergiebt es sich, daß ohngeachtet aller dieser Verschiedenheiten, die Seelenarzeneikunde nicht nur auf einen eben solchen Fuß, wie die Körperarzeneikunde eingerichtet werden, sondern in gewissem Betracht dieselbe sogar an Evidenz übertreffen kann. Der Anatomie in dieser entspricht die Analysis der ver- Betrachten wir hingegen die Seelenkrankheit in ihrem Anfange, so wird jeder Mensch, außer den Stoischen Weisen, fuͤr ziemlich seelenkrank gehalten werden muͤssen, welches doch mit den Krankheiten des Koͤrpers ganz anders beschaffen ist. 3) Die Therapie in der Seelenarzeneikunde ist auch von der in der Koͤrperarzeneikunde sehr verschieden. Jn dieser koͤmmt man der Krankheit durch aͤußere Mittel zu Huͤlfe, deren Wuͤrkung nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung bekannt ist. Jst zum Beispiel eine Stockung der Saͤfte die Ursache der Krankheit, so bedienen wir uns der aus der Chimie bekannten Aufloͤsungsmittel, deren Wuͤrkung nicht nur im menschlichen Koͤrper sondern allgemein ist; und so verfahren wir auch in andern Faͤllen. Jn der Seelenarzeneikunde hingegen koͤnnen wir uns keiner aͤußern Mittel bedienen, sondern, so wie die Ursache der Krankheit in der Seele selbst, so muͤssen auch die Mittel dawider in ihr selbst gesucht werden. Die Seelenarzeneikunde kann auch nicht wie die Koͤrperarzeneikunde von der Mathematik, Mechanik oder Chimie einen Gebrauch machen. Von einer andern Seite betrachtet aber ergiebt es sich, daß ohngeachtet aller dieser Verschiedenheiten, die Seelenarzeneikunde nicht nur auf einen eben solchen Fuß, wie die Koͤrperarzeneikunde eingerichtet werden, sondern in gewissem Betracht dieselbe sogar an Evidenz uͤbertreffen kann. Der Anatomie in dieser entspricht die Analysis der ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0017" n="15"/><lb/> <p>Betrachten wir hingegen die Seelenkrankheit in ihrem Anfange, so wird jeder Mensch, außer den <hi rendition="#b">Stoischen Weisen,</hi> fuͤr ziemlich seelenkrank gehalten werden muͤssen, welches doch mit den Krankheiten des Koͤrpers ganz anders beschaffen ist.</p> <p>3) Die <hi rendition="#b">Therapie</hi> in der Seelenarzeneikunde ist auch von der in der Koͤrperarzeneikunde sehr verschieden. Jn dieser koͤmmt man der Krankheit durch <hi rendition="#b">aͤußere Mittel</hi> zu Huͤlfe, deren Wuͤrkung nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung bekannt ist. Jst zum Beispiel eine Stockung der Saͤfte die Ursache der Krankheit, so bedienen wir uns der aus der Chimie bekannten Aufloͤsungsmittel, deren Wuͤrkung nicht nur im menschlichen Koͤrper sondern allgemein ist; und so verfahren wir auch in andern Faͤllen. Jn der Seelenarzeneikunde hingegen koͤnnen wir uns keiner aͤußern Mittel bedienen, sondern, so wie die Ursache der Krankheit in der Seele selbst, so muͤssen auch die Mittel dawider <hi rendition="#b">in ihr selbst</hi> gesucht werden. Die Seelenarzeneikunde kann auch nicht wie die Koͤrperarzeneikunde von der Mathematik, Mechanik oder Chimie einen Gebrauch machen.</p> <p>Von einer andern Seite betrachtet aber ergiebt es sich, daß ohngeachtet aller dieser Verschiedenheiten, die Seelenarzeneikunde nicht nur auf einen eben solchen Fuß, wie die Koͤrperarzeneikunde eingerichtet werden, sondern in gewissem Betracht dieselbe sogar an Evidenz uͤbertreffen kann. Der Anatomie in dieser entspricht die <hi rendition="#b">Analysis der ver-<lb/></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [15/0017]
Betrachten wir hingegen die Seelenkrankheit in ihrem Anfange, so wird jeder Mensch, außer den Stoischen Weisen, fuͤr ziemlich seelenkrank gehalten werden muͤssen, welches doch mit den Krankheiten des Koͤrpers ganz anders beschaffen ist.
3) Die Therapie in der Seelenarzeneikunde ist auch von der in der Koͤrperarzeneikunde sehr verschieden. Jn dieser koͤmmt man der Krankheit durch aͤußere Mittel zu Huͤlfe, deren Wuͤrkung nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung bekannt ist. Jst zum Beispiel eine Stockung der Saͤfte die Ursache der Krankheit, so bedienen wir uns der aus der Chimie bekannten Aufloͤsungsmittel, deren Wuͤrkung nicht nur im menschlichen Koͤrper sondern allgemein ist; und so verfahren wir auch in andern Faͤllen. Jn der Seelenarzeneikunde hingegen koͤnnen wir uns keiner aͤußern Mittel bedienen, sondern, so wie die Ursache der Krankheit in der Seele selbst, so muͤssen auch die Mittel dawider in ihr selbst gesucht werden. Die Seelenarzeneikunde kann auch nicht wie die Koͤrperarzeneikunde von der Mathematik, Mechanik oder Chimie einen Gebrauch machen.
Von einer andern Seite betrachtet aber ergiebt es sich, daß ohngeachtet aller dieser Verschiedenheiten, die Seelenarzeneikunde nicht nur auf einen eben solchen Fuß, wie die Koͤrperarzeneikunde eingerichtet werden, sondern in gewissem Betracht dieselbe sogar an Evidenz uͤbertreffen kann. Der Anatomie in dieser entspricht die Analysis der ver-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0901_1792/17>, abgerufen am 16.02.2025. |