Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791.Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebürtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstädte vertauscht -- und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte. Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihn, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief laß, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte. Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am öftersten von ihm unterredete. Dieser O... war damals ein junger liebenswürdiger Schwärmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreitz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefühle -- zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefühlvolles Herz. An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartheuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hineinzugehen. Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kürze des Lebens unterhalten, wobei zu Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebuͤrtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstaͤdte vertauscht — und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindruͤcke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte. Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihn, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief laß, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte. Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am oͤftersten von ihm unterredete. Dieser O... war damals ein junger liebenswuͤrdiger Schwaͤrmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreitz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefuͤhle — zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefuͤhlvolles Herz. An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartheuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hineinzugehen. Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kuͤrze des Lebens unterhalten, wobei zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0098" n="96"/><lb/> <p>Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebuͤrtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstaͤdte vertauscht — und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindruͤcke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte. </p> <p>Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihn, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief laß, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte. </p> <p>Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am oͤftersten von ihm unterredete. </p> <p>Dieser O... war damals ein junger liebenswuͤrdiger Schwaͤrmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreitz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefuͤhle — zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefuͤhlvolles Herz. </p> <p>An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartheuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hineinzugehen. </p> <p>Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kuͤrze des Lebens unterhalten, wobei zu<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0098]
Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebuͤrtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstaͤdte vertauscht — und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindruͤcke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte.
Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihn, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief laß, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte.
Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am oͤftersten von ihm unterredete.
Dieser O... war damals ein junger liebenswuͤrdiger Schwaͤrmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreitz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefuͤhle — zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefuͤhlvolles Herz.
An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartheuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hineinzugehen.
Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kuͤrze des Lebens unterhalten, wobei zu
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0801_1791/98>, abgerufen am 21.06.2024. |