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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789.

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türliche Dinge auf eine schiefe und widersinnige Art selbst in neuern Zeiten zu erklären sucht. "Er sah nehmlich Menschen am Altare etwas in den Mund nehmen, und hernach aus einem schön vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben lüstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zu zulassen, unstreitig noch mehr vermehrt wurde. Er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, daß er den öffentlichen Gottesdienst ganz abwartete, bis alle Leute aus der Kirche gegangen wären, -- und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigtem Gottesdienste weggenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate, und trank den übrig gebliebnen Wein rein aus, worüber er den Seinigen eine lebhafte Freude bezeugte."

Die ganz außerordentliche Hochachtung, welche Taubstumme gemeiniglich gegen Geistliche empfinden, und gegen den Gottesdienst an den Tag legen, wird auch durch dies Beispiel bestätigt. "Er war in der Kirche ganz Aufmerksamkeit, und ahmte außer der Kirche die Stellung und Bewegung der Prediger so glücklich nach, daß er jedem auf sein Befragen den Prediger durch seine Pantomime zu


tuͤrliche Dinge auf eine schiefe und widersinnige Art selbst in neuern Zeiten zu erklaͤren sucht. »Er sah nehmlich Menschen am Altare etwas in den Mund nehmen, und hernach aus einem schoͤn vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben luͤstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zu zulassen, unstreitig noch mehr vermehrt wurde. Er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, daß er den oͤffentlichen Gottesdienst ganz abwartete, bis alle Leute aus der Kirche gegangen waͤren, — und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigtem Gottesdienste weggenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate, und trank den uͤbrig gebliebnen Wein rein aus, woruͤber er den Seinigen eine lebhafte Freude bezeugte.«

Die ganz außerordentliche Hochachtung, welche Taubstumme gemeiniglich gegen Geistliche empfinden, und gegen den Gottesdienst an den Tag legen, wird auch durch dies Beispiel bestaͤtigt. »Er war in der Kirche ganz Aufmerksamkeit, und ahmte außer der Kirche die Stellung und Bewegung der Prediger so gluͤcklich nach, daß er jedem auf sein Befragen den Prediger durch seine Pantomime zu

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[7/0009] tuͤrliche Dinge auf eine schiefe und widersinnige Art selbst in neuern Zeiten zu erklaͤren sucht. »Er sah nehmlich Menschen am Altare etwas in den Mund nehmen, und hernach aus einem schoͤn vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben luͤstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zu zulassen, unstreitig noch mehr vermehrt wurde. Er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, daß er den oͤffentlichen Gottesdienst ganz abwartete, bis alle Leute aus der Kirche gegangen waͤren, — und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigtem Gottesdienste weggenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate, und trank den uͤbrig gebliebnen Wein rein aus, woruͤber er den Seinigen eine lebhafte Freude bezeugte.« Die ganz außerordentliche Hochachtung, welche Taubstumme gemeiniglich gegen Geistliche empfinden, und gegen den Gottesdienst an den Tag legen, wird auch durch dies Beispiel bestaͤtigt. »Er war in der Kirche ganz Aufmerksamkeit, und ahmte außer der Kirche die Stellung und Bewegung der Prediger so gluͤcklich nach, daß er jedem auf sein Befragen den Prediger durch seine Pantomime zu

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/9>, abgerufen am 16.04.2024.