sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit größter Stärke: -- nun stirbst du. -- Dieser Gedanke blieb während der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkürlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit überrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewöhnlichsten und seltsamsten Jdeen können einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewöhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine plözliche körperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung können einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht überreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natürlichern und vernünftigern Vorstellungen zuläßt; theils weil der Eingebildete keine Lücke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natürlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemäß vorkommt. Hieraus
sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit groͤßter Staͤrke: — nun stirbst du. — Dieser Gedanke blieb waͤhrend der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkuͤrlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit uͤberrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewoͤhnlichsten und seltsamsten Jdeen koͤnnen einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewoͤhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine ploͤzliche koͤrperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung koͤnnen einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht uͤberreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natuͤrlichern und vernuͤnftigern Vorstellungen zulaͤßt; theils weil der Eingebildete keine Luͤcke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natuͤrlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemaͤß vorkommt. Hieraus
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0045"n="45"/><lb/>
sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit groͤßter Staͤrke: <hirendition="#b">— nun stirbst du. —</hi> Dieser Gedanke blieb waͤhrend der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkuͤrlich <choice><corr>in den</corr><sic>in</sic></choice> Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit uͤberrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewoͤhnlichsten und seltsamsten Jdeen koͤnnen einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewoͤhnlichen Denkordnung <hirendition="#b">auf einmal</hi> herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine ploͤzliche koͤrperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung koͤnnen einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine <hirendition="#b">richtige</hi> Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht uͤberreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natuͤrlichern und vernuͤnftigern Vorstellungen zulaͤßt; theils weil der Eingebildete keine Luͤcke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natuͤrlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemaͤß vorkommt. Hieraus<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[45/0045]
sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit groͤßter Staͤrke: — nun stirbst du. — Dieser Gedanke blieb waͤhrend der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkuͤrlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit uͤberrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewoͤhnlichsten und seltsamsten Jdeen koͤnnen einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewoͤhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine ploͤzliche koͤrperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung koͤnnen einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht uͤberreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natuͤrlichern und vernuͤnftigern Vorstellungen zulaͤßt; theils weil der Eingebildete keine Luͤcke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natuͤrlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemaͤß vorkommt. Hieraus
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:
Anmerkungen zur Transkription:
Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.
Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/45>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.