Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.
Jch erschrak als ich ihn so reden hörte. Es war die Gegend, die er von seinem Zimmer im Tollhaus vor sich hatte. "Kein Wunder -- erwiederte ich verlegen, -- daß Jhnen die Gegend so vertraut ist. Sie kennen sie ja von Jhrer Knabenzeit an, und der Baum wird noch ein überbliebenes Gemählde aus jenem Rosenalter seyn, das Jhnen Zeit, und Ort so eben lebhaft vor Augen brachte." -- Er. Nicht möglich! So lebendig sieht die glühendste Fantasie jene Gemählde nicht, als mir die Gegend hier in der Seele liegt. Jch weiß nicht, wie schwül und schauerlich mir bey ihrem Anblik wird.
Jch erschrak als ich ihn so reden hoͤrte. Es war die Gegend, die er von seinem Zimmer im Tollhaus vor sich hatte. »Kein Wunder — erwiederte ich verlegen, — daß Jhnen die Gegend so vertraut ist. Sie kennen sie ja von Jhrer Knabenzeit an, und der Baum wird noch ein uͤberbliebenes Gemaͤhlde aus jenem Rosenalter seyn, das Jhnen Zeit, und Ort so eben lebhaft vor Augen brachte.« — Er. Nicht moͤglich! So lebendig sieht die gluͤhendste Fantasie jene Gemaͤhlde nicht, als mir die Gegend hier in der Seele liegt. Jch weiß nicht, wie schwuͤl und schauerlich mir bey ihrem Anblik wird. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0116" n="116"/><lb/> mit einmal stehen <choice><corr>blieb,</corr><sic>blieb</sic></choice> tiefsinnend <choice><corr>umherschaute</corr><sic>unherschaute</sic></choice>, und ausrief: »Mein Gott die Gegend hier ist mir so bekannt, alles umher mir so vertraut, so frisch und lebendig in meiner Seele. Diesen Baum dort hab ich oft Tage lang beobachtet. Er war meine Uhr. Stund er im Volllichte, und warf er seinen eingeschrumpften Schatten quer durch die Allee; — so war es Zeit zum Mittagessen. Strekte er seinen Schatten gigantisch uͤber das Feld hin, zukte das Sonnenlicht nur noch schwaͤchlich auf seinem Wipfel, so war dies die Stunde zum <choice><corr>Abendbrod.</corr><sic>Abenbrod.</sic></choice> Sagen Sie doch, lieber Doktor, wo war ich, als ich diese Gegend hier zur Aussicht hatte? Ach damals fuͤhrt' ich ein trauriges Leben.«</p> <p>Jch erschrak als ich ihn so reden hoͤrte. Es war die Gegend, die er von seinem Zimmer im Tollhaus vor sich hatte. »Kein Wunder — erwiederte ich verlegen, — daß Jhnen die Gegend so vertraut ist. Sie kennen sie ja von Jhrer Knabenzeit an, und der Baum wird noch ein uͤberbliebenes Gemaͤhlde aus jenem Rosenalter seyn, das Jhnen Zeit, und Ort so eben lebhaft vor Augen brachte.« —</p> <p><hi rendition="#b">Er.</hi> Nicht moͤglich! So lebendig sieht die gluͤhendste Fantasie jene Gemaͤhlde nicht, als mir die Gegend hier in der Seele liegt. Jch weiß nicht, wie schwuͤl und schauerlich mir bey ihrem Anblik wird.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [116/0116]
mit einmal stehen blieb, tiefsinnend umherschaute, und ausrief: »Mein Gott die Gegend hier ist mir so bekannt, alles umher mir so vertraut, so frisch und lebendig in meiner Seele. Diesen Baum dort hab ich oft Tage lang beobachtet. Er war meine Uhr. Stund er im Volllichte, und warf er seinen eingeschrumpften Schatten quer durch die Allee; — so war es Zeit zum Mittagessen. Strekte er seinen Schatten gigantisch uͤber das Feld hin, zukte das Sonnenlicht nur noch schwaͤchlich auf seinem Wipfel, so war dies die Stunde zum Abendbrod. Sagen Sie doch, lieber Doktor, wo war ich, als ich diese Gegend hier zur Aussicht hatte? Ach damals fuͤhrt' ich ein trauriges Leben.«
Jch erschrak als ich ihn so reden hoͤrte. Es war die Gegend, die er von seinem Zimmer im Tollhaus vor sich hatte. »Kein Wunder — erwiederte ich verlegen, — daß Jhnen die Gegend so vertraut ist. Sie kennen sie ja von Jhrer Knabenzeit an, und der Baum wird noch ein uͤberbliebenes Gemaͤhlde aus jenem Rosenalter seyn, das Jhnen Zeit, und Ort so eben lebhaft vor Augen brachte.« —
Er. Nicht moͤglich! So lebendig sieht die gluͤhendste Fantasie jene Gemaͤhlde nicht, als mir die Gegend hier in der Seele liegt. Jch weiß nicht, wie schwuͤl und schauerlich mir bey ihrem Anblik wird.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/116 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/116>, abgerufen am 16.02.2025. |